Kommentar

Solidarität – ein Markenzeichen der Schweiz

Gabriela Neuhaus © zvg

Gabriela Neuhaus /  Seit 100 Jahren hören wir die gleichen Argumente gegen eine starke AHV. Wahrer sind sie nicht geworden.

Seit Jahr und Tag steht das Foto meines Urgrossvaters auf meinem Schreibtisch: Ernst Jakob. Er, der schon vor über hundert Jahren für soziale Gerechtigkeit und ja, für eine Alters- und Hinterlassenenversicherung gekämpft hat, wusste genau, dass man nie lockerlassen darf. Solidarität fällt nicht vom Himmel, sie muss erkämpft und bewahrt werden. Gegen alle Angriffe der Wohlhabenden auf die Armen.

Nachdem der Bundesrat bereits 1919 als Reaktion auf den Landesgeneralstreik die Schaffung einer Versicherung gegen Altersarmut in Aussicht gestellt hatte, sollte es noch einmal fast 30 Jahre dauern, bis die AHV endlich Tatsache wurde.

Urgrossvater Ernst, der nach seiner Mechanikerlehre bei der damaligen Jura-Simplon-Bahn vom Heizer zum Lokomotivführer aufgestiegen ist, hat als engagierter Gewerkschafter und Politiker das jahrelange Ringen um die Sozialversicherungen miterlebt. Mehr noch: Aufgrund von Zeitungsberichten, Protokollen und Erzählungen kann ich nur erahnen, wieviel Zeit und Engagement er diesem Kampf gewidmet hat, wie oft er an Versammlungen und Abstimmungsveranstaltungen die Notwendigkeit der AHV und die Argumente dafür immer und immer wiederholt hat. Mein Urgrossvater Ernst Jakob gehörte zu den treibenden Kräften hinter dem grossen Sozialwerk, das bis heute auf der Solidarität zwischen Arm und Reich sowie Alt und Jung basiert.

Ein Grundsatz, der in der aktuellen Abstimmungskampagne von der Gegnerschaft einer verfassungskonformen AHV schamlos infrage gestellt wird. – Am letzten Wochenende hat die Sonntagspresse noch einmal alles gegeben, um die Argumente der Versicherungslobby und der Reichen in diesem Land gegen ein Ja für die 13. AHV-Rente zu übertönen. Nachdem vor ein paar Wochen der 27-jährige Jo Dietrich für sich und seine (und künftige) Generationen ein Nein gefordert hat, ist es diesmal ein wohlstandsgewohntes Rentnerpaar mit Namen Minsch und Baur, das in die gleiche Kerbe haut.

Der gutbetuchte Ex-Ökonomieprofessor und seine Gattin, eine Agrar- und Umweltökonomin, haben letzte Woche ein kleines, billiges Inserat in der TA-Gratiszeitung 20-Minuten geschaltet, in dem sie Junge auffordern, ein Nein in die Urne zu legen – ein Steilpass, den die Sonntags-Zeitung zu einem grossen Artikel aufgeblasen hat, inklusive Zweitverwertung in den TA-Blättern vom Montag.

So geht Kampagnenjournalismus: Die Mainstreammedien NZZ und Tamedia machen einerseits mit einseitigen «Recherchen», in Leitartikeln und Kommentaren seit Wochen mächtig Stimmung gegen die 13. AHV-Rente. Und garnieren sie darüber hinaus mit netten Homestories, in denen Leute wie der Junior Dietrich und die Senior:innen Minsch/Baur eine Plattform erhalten. Sympathische Testimonials, wie wir sie von der Zahnpasta- oder Waschmittelwerbung kennen – Hauptsache, sie verfangen.

Andere Informationen wurden im Blätterwald kleiner gedruckt und nach hinten gerückt. So etwa die Meldung, dass der AHV-Fonds im letzten Jahr nicht geschmolzen ist, sondern vielmehr sein angelegtes Vermögen um 3,3 Milliarden auf 40,4 Milliarden Franken gesteigert hat. Zahlen, welche die Behauptungen der Gegnerschaft mehr als relativieren und einmal mehr bestätigen, dass die Schwarzmalerei in Bezug auf die AHV interessengetriebene Angstmacherei ist.

In seinem Wochenkommentar führt Daniel Binswanger in der Republik zudem plastisch vor Augen, wie schlecht das Rentensystem der reichen Schweiz im internationalen Vergleich abschneidet. So sind die Durchschnittsrenten in unserem Land in den letzten 20 Jahren um sage und schreibe 20 Prozent gesunken. Zusammenfassend hält er fest: «In allen Industriestaaten dieser Welt werden die niedrigen Renten querfinanziert und durch Umverteilung aufgebessert, weil die niedrigsten Einkommen in der Nähe der Armutsgrenze liegen und weil deshalb, wenn diese Einkommen durch Renten mit einer zu niedrigen Lohnersatzquote abgelöst werden, ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zwangsläufig in die Armut abgleitet. In der Schweiz allerdings ist diese Querfinanzierung zu bescheiden.»

Ein Blick in die Archive zeigt: Schon in den 1930er-Jahren griffen die Gegner einer starken AHV zur Angstkeule und wussten während Jahren, deren Einführung zu verhindern, indem sie behaupteten, die Versicherungsbeiträge würden die Schweizer Wirtschaft ruinieren.

Mein Urgrossvater mit dem mächtigen Schnauz, im Lokführer-Outfit, Baskenmütze auf dem Kopf, blickt mich von seinem Platz auf meinem Pult ob der laufenden Neid-Debatte um die AHV ungläubig an. Fast scheint mir, als würde ein leises, bitteres Lächeln über sein Gesicht huschen, als wollte er mir sagen: Das war schon immer so…

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Ernst Jakob: Der Urgrossvater der Autorin kämpfte schon vor über 100 Jahren für die AHV.

So referierte Ernst Jakob etwa anlässlich einer Versammlung des Bieler Gewerkschaftskartells im Vorfeld der AHV-Gründung 1939 über «das Versicherungsproblem, das dem Gegner der Vorlage am meisten Anlass gibt zur Lügenpropaganda».

Er führte weiter aus, dass die Gegnerschaft – allen voran das Versicherungskapital – keine Mittel scheuen werde, um die Vorlage zu gefährden. Und schloss seine Ausführungen mit den Worten: «Wir dürfen nicht den Bessergestellten herunterholen, sondern müssen danach trachten, den Schwachen zu stärken.»

Deine Worte in unser Ohr, lieber Urgrossvater Ernst! Lassen wir uns nicht beirren von den heftigen Attacken auf die Solidarität zwischen Alt und Jung. Nicht zuletzt aus Respekt vor dem sozialstaatlichen Erbe, das unsere Vorfahren hart erkämpft und zu treuen Händen weitergegeben haben, auf dass es auch in Zukunft erhalten und finanziert bleibt. Auch wenn das denen da oben nicht passt.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf offroadreports.ch.



Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Die Autorin ist Journalistin und publiziert ihre Beiträge auf offroadreports.ch.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Die Zukunft der AHV und IV

Die Bundesverfassung schreibt vor, dass die AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf angemessen decken müssen.

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Eine Meinung zu

  • am 28.02.2024 um 20:11 Uhr
    Permalink

    Wie Recht Frau Neuhaus hat. Die Solidarität unter Schweizern ist auf einem Tiefpunkt angekommen. Vor der Weltöffentlichkeit will man als Gutmensch dastehen und schickt Milliarden in korrupte Länder. Sogar Renter sind unter sich sehr unsolidarisch. «Was ich nicht brauche, müssen andere auch nicht haben» ist sinngemäss die Aussage von unzähligen Leserbriefen wenn es um die 13. AHV-Rente geht.

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