Kommentar
Peter Bichsel oder die Kunst des Nebenbei
Damals war er noch Lehrer und ich noch nicht. Wir Studis waren verstrickt in reichlich abstrakte Revolutionsdiskurse und Antirepressionskampagnen. Unsere Idole waren laut und bekamen beim Sprechen rote Köpfe vor Anstrengung.Die Welt musste geändert werden, und zwar subito. Und zwar von uns. Erziehung war ein politisch heiss umstrittenes Thema. Ich besuchte eines Tages in Basel – es war wohl im Bernoullianum – eine Diskussionsveranstaltung über die Schule, die ich für eine Brutstätte des autoritären Charakters hielt. Auf dem Podium sass, leicht gebeugt, der junge Bichsel mit seinem Wuschelkopf. Als des Lehrerspiessers Steckenpferd, die Orthographie, zur Sprache kam, nuschelte Bichsel leise aber vernehmlich: Rechtschreibung? Die kriegt doch früher oder später jeder mal rein, wie den Schnupfen.

Die konservativen Lehrgotten und Steisstrommler aus den Basler Erziehungsanstalten waren empört. Ich war fasziniert. Allerdings nicht so sehr vom Inhalt. Dass die Rechtschreibung unwichtig sei, hielt ich damals für selbstverständlich. Diese Auffassung wurde erst später von Unterschichts-Jugendlichen korrigiert, die mir klar machten, dass sie – anders als bürgerliche Individuen wie ich – sehr wohl aufgrund der Rechtschreibung beurteilt werden, etwa bei Bewerbungen. Was mich faszinierte, waren weniger diese Themen als Bichsels Stil. Er sprach aus der Sicherheit tiefster, lang bedachter Überzeugung, ohne Erregung, wie selbstverständlich, nebenbei. Er beherrschte die Kunst des «A part».
Er war der kritisch denkende Wolf im Schafspelz des Anstands, der nicht bösartig war, sondern charmant, verschmitzt und sexy. Er verführte das konformistisch denkende Rotkäppchen zu radikalem Denken. Auch der Schriftsteller Bichsel, den ich dann las, ist nicht, was er scheint. Er ist Phantast im Gewande des Realisten. Seine Sätze handeln vom Tisch, vom Stuhl, vom Baum, vom Haus. Aber kaum hat man zwei dieser Sätze gelesen, ist man im Reich des Erfundenen. Dieser Schriftsteller ist ein Philosoph, kommt aber in der Gestalt des Nachbarn daher. Die berühmte Erzählung «Ein Tisch ist ein Tisch» thematisiert ein Grundproblem der Sprache, das in der Wissenschaft als das Verhältnis zwischen Signifikant (Bezeichnendem) und Signifikat (Bezeichnetem) verhandelt wird. Der alte Mann in der Geschichte hat zu seinem Sprachspiel allerdings nicht die Distanz des Wissenschaftlers. Er ruft begeistert aus: «Jetzt ändert es sich»! Er gibt den Dingen seiner Umgebung neue Namen, weil er verzweifelt ist über die Unbeweglichkeit der Welt, verzweifelt über die «ganze alte Scheisse» (Marx). Als Individualrevolutionär der Sprache endet er in der Einsamkeit und im Verstummen. Lustig ist diese Parabel über die Veränderbarkeit der Welt nicht.
Einmal hat Bichsel gesagt, er sei eigentlich ein abstrakter Schriftsteller, was aber Gott sei Dank niemand merke. In der Kindergeschichte «Die Erde ist rund» taucht der Mann, der «sich alles, was er wusste, noch einmal überlegte», auf. Er ist eng verwandt mit seinem Erfinder. Und wenn der erfundene Mann mit der Leiter unter dem Arm loszieht, um zu überprüfen und zu erfahren, ob die Erde wirklich rund ist, sind wir unmerklich wieder in die Abstraktion geraten, nämlich in die erkenntnistheoretische Frage, was und wie wir etwas «wissen» und «erfahren» können. Gibt es angesichts von Fake News ein aktuelleres Thema? Gibt es angesichts der lärmigen Reaktionsperiode, in der wir leben, eine interessantere Haltung als Bichsels Kunst des «A part»?
Bichsel war selbstbewusst und bescheiden zugleich. Irgendwie passt es gut, dass er sich kurz vor den öffentlichen Feiern zu seinem Neunzigsten verabschiedet hat.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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