Monarchie: Der regressive Traum von der guten, alten Zeit
An einem beliebigen Schweizer Stammtisch könnte man in die Runde werfen: «Stellt euch vor, dass ein Ignazio Cassis Bundespräsident würde, weil seine Mutter dieses Amt auch schon 70 Jahre lang bekleidete.» Da wäre die erwartbare Antwort wohl: «Hör doch auf mit dem Blödsinn!» Auch die Vorstellung, Cassis habe sein Amt vom lieben Gott erhalten, würde wohl Heiterkeit selbst bei der FDP auslösen. Aber genau dies, Gottesgnadentum, ist Teil der althergebrachten Formel, mit der Charles zum neuen Oberhaupt Grossbritanniens vereidigt wurde.
Der Schweizer Bundesstaat hat den Adel als politische Erbherrschaft abgeschafft. Gemäss Artikel 4 der Schweizerischen Bundesverfassung gibt es in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen. Der Adel hat heute keine rechtliche Grundlage mehr.
Umso erstaunlicher war die Inbrunst, mit der Schweizer Medien vom Tod der Queen berichteten. Man liess es sich nicht nehmen, die frischgebackene Premierministerin Truss zu zitieren: «Der Fels des modernen Grossbritannien ist nicht mehr», titelte der Zürcher Tagesanzeiger. Von Elizabeths Hingabe, ihrem unerschütterlichen Dienst am Land war allenthalben die Rede. Huldigungen und tiefste Betroffenheit allerorten.
Prinz William wird zitiert: «Am Donnerstag hat die Welt eine aussergewöhnliche Führungspersönlichkeit verloren, deren Engagement für das Land, das Commonwealth und dessen Mitgliedsstaaten bedingungslos war. In den kommenden Tagen wird viel über die Bedeutung ihrer historischen Regentschaft gesprochen werden.»
Letzteres mag zutreffen. Für die Boulevard- Medien gilt seit jeher: Sex und die Royals verkaufen sich immer. Doch wie steht es mit der unaufhörlich beschworenen Behauptung, die Queen habe als «Führungspersönlichkeit» Grossbritannien zusammengehalten? Sie entbehrt jeder Grundlage. Elizabeth hat das Land nicht mit politischer Einflussnahme zusammengehalten. Sie sagte nichts zu entscheidenden politischen Entwicklungen und Fehlentwicklungen. Oder falls sie etwas in den Konsultationen mit den jeweiligen Regierungschefs zu sagen hatte, dann hat es die Öffentlichkeit nie erfahren. Sie hatte per Definition über den tagespolitischen Querelen zu stehen. Queen Elizabeth machte keine Politik, sie war einfach da, und das genügte.
Peter Nonnenmacher zitiert im Tagesanzeiger den Song von Paul Mc Cartney:
«Her Majesty is a pretty nice girl. But she doesn’t have a lot to say.»
Das Lied wurde 1969 aufgenommen. Der Zeitgeist wehte den Royals damals eiskalt ins Gesicht. Die Studentenbewegung der Siebzigerjahre sah die Monarchen als Parasiten. Die Kolonialgeschichte des Empire wurde als eine einzige Abfolge von Unterdrückung und Ausbeutung unterworfener Völker angesehen. Die jeweiligen Monarchen wurden dafür verantwortlich gemacht.
Nach einer Studie der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet verursachte die «Koalition der Willigen» 2003 allein mit der ersten Bombardierungswelle – vom US-Verteidigungsminister Rumsfeld als «Shock an Awe» verkündet – etwa hunderttausend tote Irakerinnen und Iraker. Der Angriffskrieg wurde mit Lügen gerechtfertigt. Hat die Queen jemals Bedauern geäussert? Hat sie jemals Anteilnahme mit den Opfern spüren lassen?
Bis heute wurden in Grossbritannien keine nachhaltigen Ermittlungen eingeleitet über die zahlreichen Fälle von Folter und Misshandlungen, die britischen Militärangehörigen vorgeworfen werden.
Grossbritannien marschierte im militärischen Gleichschritt mit den USA in die Kriege, die die Nato in den letzten Jahrzehnten geführt hat. Die «special relationship» war so eng, dass Tony Blair landauf landab als «Bushs Pudel» bezeichnet wurde.
Hat die Queen sich je zu dem Tatbestand geäussert, dass ein Journalist wie Julian Assange in britischen Kerkern physisch und psychisch kaputt gemacht wird? Sein Vergehen: Er hatte Kriegsverbrechen der US-Army im Irak aufgedeckt.
Die Folterpraxis im afghanischen Bagram war so entsetzlich, dass es mir beim Lesen einiger Auszüge eines internen Pentagon-Berichtes, der durch ein Leck publik geworden war, schier übel wurde. Nicht nur die CIA sondern auch der britische Gheimdienst MI6 war an diesen Misshandlungen beteiligt, wiewohl dies immer wieder abgestritten wird.
Eben jener Geheimdienst, der in einer unaufhörlichen Abfolge von James-Bond-Filmen als der gute Geist Grossbritanniens zelebriert wird. Agent 007 bekämpft das Böse überall auf der Welt, und er tut es im Namen ihrer Majestät. Wen wundert es, dass die PR-Berater der Queen bei den Olympischen Spielen 2012 auf die Idee kamen, ein Video zu drehen, in dem die 86-Jährige Elizabeth an der Seite von James Bond (Daniel Craig) auftritt: zwei Pop-Ikonen derselben Ideologie-Maschinerie, welche die Flucht aus der Realität ermöglicht.
Ein Bäcker backt Brot, ein Schuster repariert Schuhe. Was produziert eine Königin? Sie produziert soziale Kohäsion. Das heisst, sie erfüllt das Bedürfnis der Leute nach Bildern einer heilen Welt, nach Requisiten einer glorreichen Vergangenheit. Ein unaufhörlicher Bilderbogen von Palästen, goldenen Kutschen und roten Galauniformen wurde über die 70 Jahre ihrer Regentschaft vor der ganzen Welt ausgebreitet. Die Königin spielte in diesem Märchen die Landesmutter und gute Fee. Das hat funktioniert, weil Menschen sich oft nicht rational verhalten, sondern in frühen psychischen Schichten starke Bedürfnisse nach Regression aufbewahren. Es ist zweifellos ein schönes Gefühl, einmal erlöst zu werden vom rationalen Ich und sich treiben zu lassen im Wir-Gefühl eines ganzen Volkes, das seine Queen verehrt.
Voltaire fuhr 1726 nach England und war voll des Lobes über die britische Monarchie, wo die Macht des Königs schon seit der Magna Carta von 1215 im Lauf der Jahrhunderte immer stärker eingeschränkt worden war. Die Briten hatten es geschafft, sich ohne Blutvergiessen vom Absolutismus zu verabschieden und eine parlamentarische Monarchie zu etablieren, die sich an den Philosophen der Aufklärung orientierte. «La chambre des Lords et celle des Communues sont les arbitres de la Nation» schrieb Voltaire in seinen Lettres Anglaises.
Samuel Pepys, Abgeordneter des britischen Parlamentes, notiert 1666 in sein Tagebuch, man mokiere sich am Hof zu London über die merkwürdigen Sitten in Madrid: «Der König von Spanien pisst nur, wenn ein anderer ihm den Nachttopf hält.»
In der Respektlosigkeit vor der Monarchie kündigt sich das radikale Enlightenment des 18. Jahrhunderts an. Der Bettler, der sich für einen König hält, ist ein Trottel. Aber selbstverständlich ist auch der König, der sich für einen König hält, ein Trottel. Eine simple Wahrheit, die viele heutzutage offenbar nicht mehr hören wollen.
«Our hearts are broken», titelte die Daily Mail für ihre mehr als zwei Millionen Leser. Viele Britinnen und Briten sind zutiefst betroffen und erschüttert. Sie liebten und verehrten ihre Queen. Die Queen war für sie eine Art Rettungsanker in stürmischen Zeiten. Sie war die personifizierte Versicherung, dass es da oben in den Palästen noch eine heile Welt gebe, in der die alten Werte und Traditionen Bestand hätten.
Dem Schmerz dieser Menschen ist mit Respekt und Verständnis zu begegnen. Aber ein klein wenig sollten wir uns bei aller Rührseligkeit daran erinnern, dass es einmal eine Zeit gab, die als Epoche der Aufklärung bezeichnet wird. Ihr Diskurs lautete: Es gibt kein blaues Blut, keine Macht von Gottes Gnaden und kein Anrecht einer Familie auf vererbbare Macht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Danke, dass inmitten des unkritischen Mediengejammers auch noch ein Text mit (höflichem) Verstand zu finden ist. Es wäre höchste Zeit für Grossbritannien, runter vom hohen Inselross zu steigen, nicht mehr verblendet einer illusorischen «glorreichen» Vergangenheit nachzutrauern und mutig, weitsichtig und weltbürgerisch die Zufunkt anzupacken. Ehm, für die Schweizer mit ihrem Neutralitätstrauma übrigens auch… die Erde ist rund und es gibt nur diese…!
Vielen Dank für diese nüchterne Einschätzung. Es ist Zeit, dass unsere Geschichtsbücher den Grausamkeiten des Englischen Empires einmal den ihnen angemessenen Raum geben.
Eine Lektüre-Empfehlung: Mike Davis -Late Victorian Holocausts. Es geht um die britische ‹Vetwaltung› ihrer indischen Kolonie zweite Hälfte 19.Jh. Fürwahr harte Kost!
Danke, habe es bestellt.
Ich muss mich allerdings korrigieren: Auf das Britische Empire will ich meine Aussage nicht beschränken. Nur ist das in unserem Schulunterricht neben den Spanischen Conqistadores und den Nazis irgendwie untergegangen.