Flüchtlinge beleben verlassene Dörfer
Das Modell Riace zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in entvölkerten Gebieten stösst in der Schweiz auf Interesse. Denn auch hier ist in manchen Berggegenden die Entvölkerung ein Problem. Mimmo Lucano, der Erfinder des «Riace-Modells» in Kalabrien, stellt dieses morgen Freitag an der Universität Neuenburg vor.
Lucano wurde aus zwei Gründen eingeladen: Zum einen ist sein Riace-Modell originell und könnte durchaus auch in der Schweiz angewendet werden. Zum anderen ist Lucano kürzlich nach einem gewonnenen Rechtsstreit weitherum bekannt geworden. Am 12. Februar 2025 hob der Kassationsgerichtshof nämlich die schwere Strafe für Mimmo Lucano aus dem Jahr 2021 fast vollständig auf.
«Verurteilt zu 13 Jahren Haft in 22 Fällen, aber ein Held für die Linke!», hatte Giorgia Meloni in einem Internetvideo getwittert. «Kriminelles Gutmenschentum – Einwanderungsskandal» titelte am 1. Oktober 2021 eine Regierungszeitung. Von den «22 Anklagepunkten» hat der Kassationsgerichtshof nur einen bestätigt, nämlich eine Freiheitsstrafe von 18 Monaten mit Bewährung wegen Fälschung in einem der 57 angefochtenen Beschlüsse. Wie so oft wurde die Aufhebung durch das Kassationsgericht von den Medien nahezu ignoriert.
Die Medien hatten 2021 die Verurteilung zu 13 Jahren Gefängnis in den Vordergrund gestellt – «wegen krimineller Verschwörung, Beihilfe zur illegalen Einwanderung, schwerem Betrug, ideologischer Falschheit, Amtsmissbrauch, Betrug bei der öffentlichen Versorgung und Veruntreuung zum Nachteil des Staates». «Die Höhe des Strafmasses ist unverständlich», kommentierte damals der berühmte Schriftsteller und ehemalige Richter Gianluca Carofiglio. «Eine solche Strafe wird zum Beispiel für Totschlag, schweren Raub oder fortgesetzte sexuelle Nötigung verhängt.» Mit 12 Jahren wegen rassistisch motivierten Massakers wurde beispielsweise der Lega-Politiker Luca Traini verurteilt, der 2018 in Macerata sechs Schwarze erschossen hatte.
Das doppelte Riace-Modell
Das Riace-Modell versucht, zwei Probleme gleichzeitig zu lösen: die Dorf-Entvölkerung und die Integration von Flüchtigen. Das Modell wurde 1998 geboren, als zweihundert Kurden von einem Flüchtlingsboot in Riace an Land gingen. Nach ihrer ersten Aufnahme in einer Kirchgemeinde kamen Mimmo Lucano und andere Einwohner auf die Idee, die zahlreichen Häuser, die in Riace leer standen, weil die Einwohner ausgewandert waren, für die Unterbringung der Kurden umzugestalten. Die Entvölkerung von Riace sollte so durch die Ansiedlung neuer junger Menschen auf der Suche nach einem neuen Leben kompensiert werden. Ende der 1990er Jahre lebten nur noch 400 Menschen in Riace, darunter viele ältere Menschen. Im Jahr 1999 gründete Lucano den Verein Città Futura. Dessen Ziel ist es, verlassene Häuser wieder zu öffnen und Migranten aufzunehmen. Sie erhalten eine Unterkunft, erlernen einen Beruf und erhalten von den Genossenschaften ein kleines Gehalt. Um die Neuankömmlinge zu integrieren, gründete Lucano auch die Genossenschaft Il Borgo e il cielo (Das Dorf und der Himmel). Diese betreibt Werkstätten für Weberei, Keramik, Glas und Patisserie und belebt alte Berufe wieder. Diese Initiativen wurden von vielen Einwohnern unterstützt. Von 2004 bis 2024 wurde Mimmo Lucano viermal zum Bürgermeister gewählt. Im Jahr 2024 wurde er ausserdem mit 180’000 Stimmen als Unabhängiger auf der Liste der AVS (Linksgrüne Allianz) in das Europäische Parlament gewählt.

In den ersten vier Jahren wurden keine staatlichen Mittel bereitgestellt und die Einwohner von Riace taten, was sie konnten. Die verlassenen Keller wurden an Migranten übergeben, die sie in multiethnische Handwerksbetriebe umwandelten, und allmählich florierten das Handwerk und das Gaststättengewerbe. Das Modell von Riace hat sich zu einem mehrstufigen Aufnahmesystem verfestigt: Zunächst werden die Migranten in das Schutzsystem für Asylbewerber und Flüchtlinge des Innenministeriums aufgenommen, dann beantragen sie Darlehen oder regionale Mittel, um die verlassenen Häuser zu renovieren und sie an Flüchtlinge und Asylbewerber zu übergeben, die schliesslich in den Handwerksbetrieben arbeiten.
Es sind zahlreiche Migranten angekommen, aber viele von ihnen sind in andere Länder weitergereist. Im Jahr 2017 wurden in Riace 550 Migranten zwanzig verschiedener Ethnien beherbergt – insgesamt waren es etwa 6’000. Mittlerweile ist der Solidartourismus auch zu einer Einnahmequelle geworden; viele Menschen kommen nach Riace, um das Dorf und seine Werkstätten zu besuchen. Es wurde auch eine lokale Währung, der Riace-Euro, geschaffen, der von Touristen verwendet werden kann.
Bevölkerungsrückgang in den Alpenkantonen und Ansiedlung von Flüchtlingen
In der Schweiz sind einige Alpenkantone – das Tessin, Graubünden und das Wallis – besonders vom Phänomen Entvölkerung betroffen. Einige abgelegene Täler der Zentralschweiz und der Ostschweiz leiden ebenfalls unter Bevölkerungsrückgang. Zum Beispiel das kleine Bergdorf Gondo-Zwischbergen (VS) an der italienischen Grenze, das einst über 500 Einwohner hatte. Doch heute leben dort weniger als 100 Menschen. Auch Sufers (GR) im Rheinwald hatte in den letzten Jahrzehnten einen starken Bevölkerungsrückgang. Die Abgeschiedenheit und die begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten führen dazu, dass viele junge Menschen das Dorf verlassen, während ältere Einwohner bleiben. In der Schweiz gib es bereits Fälle, in denen Gemeinden die Ansiedlung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Betracht gezogen oder umgesetzt haben, um die Entvölkerung zu bekämpfen – zum Beispiel Albinen (VS), Losone (TI), Windisch (AG).
Das Modell von Riace hat inzwischen weitere Projekte inspiriert. Im Jahr 2008 wurde auf der Insel Lampedusa ein Versuch unternommen, angekommene Einwanderer wie in Riace zu verwalten. Auch die kalabrischen Gemeinden Stignano und Caulonia begannen, Migranten in ihren leer stehenden Häusern unterzubringen. In der Schweiz hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) unterdessen ein Pilotprojekt gestartet, bei dem künstliche Intelligenz zur Verteilung, Unterbringung und Integration von Flüchtlingen in mehreren Kantonen eingesetzt wird. In Riace war es jedoch die natürliche Intelligenz der Einwohner, die ein Modell hervorgebracht hat, das andere zu imitieren versuchen.
Am Freitag, 14. März, um 18 Uhr stellt Mimmo Lucano das Riace-Modell an der Universität Neuenburg in einer Podiumsdiskussion mit Professor Jean-Thomas Arrighi vor. Organisator ist der Nationale Forschungsschwerpunkt für Migrations- und Mobilitätsstudien (NCCRR), in dem acht Schweizer Universitäten zusammengeschlossen sind.
Das Interesse der NCCR wurde unter anderem durch ein Dutzend Anerkennungen geweckt, die Mimmo Lucano erhalten hat, darunter den Preis der Stiftung für Freiheit und Menschenrechte (Bern, 2015), die Ernennung zu einem der «10 besten Bürgermeister der Welt» (World Majors 2010), die Ernennung zu einem der «50 einflussreichsten Führungspersönlichkeiten» (US-Magazin Fortune) sowie Ehrenbürgerschaften. Die Geschichte von Riace wurde auch von Regisseur Wim Wenders in dem Kurzfilm «ll volo« (Die Flucht) erzählt.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Es geht um zwei Dinge: Einerseits um «Aufnahme», andererseits um «Integration». Die Aufnahme dürfte problemlos sein, wenn es leerstehende Gebäude hat.
Integration hat eine andere Qualität. Integration bedeutet, dass Personen, die aus einer anderen kulturellen, sozialen oder geografischen Umgebung stammen, schrittweise in die Strukturen, Werte, Normen und das gesellschaftliche Leben einer bestehenden Gemeinschaft eingebunden werden. Das ist eine anspruchsvolle Arbeit, die sehr viel Zeit benötigt. Und sie benötigt eine bestehende Gemeinschaft. In einem leeren Dorf kann dies nicht erfolgen. So können Ghettos ohne gesellschaftliche Integration entstehen.
Es ist eine der Stärken der Schweiz, dass die hohe Zuwanderung von Menschen auch aus fremden Kulturen ohne Ghettobildung erfolgen konnte.