Kommentar
Wenn der «Blick» auf Politik macht
Dem Blick geht’s schlecht. Nicht nur ihm. Aber ihm ganz besonders. Von 2005 bis 2015 hat sich die Auflage des Schweizer Boulevardblatts fast halbiert und ist gemäss dem Verband der Schweizer Medien per 2016 auf gerade noch 143‘499 abgestürzt. In der Not kommen Redaktor*innen beziehungsweise Verleger*innen auf Ideen. Sie machen, zum Beispiel, auf Politik. Am Mittwoch, 19. April 2017, verkündet der Chef der Blick-Gruppe Christian Dorer: «Die Politik schaut weg, Blick schaut hin.» Und handelt. Das geht schneller & einfacher als in der realen Politik. Denn gewählte Parlamentarier*innen & stimmberechtigte Bürger*innen, Gutmenschen inklusive, haben nichts zu sagen, wenn der Blick «den Integrationsvertrag für alle Migrantinnen und Migranten» lanciert.
Der Vertrag à la Blick ist eine einseitige Sache. Obwohl schon Berufsschüler*innen wissen müssen, dass Verträge aufgrund gegenseitiger (und am Ende übereinstimmender) Willensäusserungen zustande kommen und alle Beteiligten unterschreiben müssen. Im aktuellen Fall wird das Problem, das der Vertrag zu lösen vorgibt, von der einen Partei definiert – es ist die andere Partei, die Ausländer*innen also. «Im Sorgenbarometer nennen die Schweizer Jahr für Jahr Ausländer als grösstes Problem», versteckt sich der Chefredaktor hinter einer Umfrage. Die Lösung – ein Vertrag mit dem «Problem», ein Integrationsvertrag.
Aber was für eine Vorstellung von Integration haben die Blick-Verantwortlichen? Offensichtlich denken sie nicht an einen interaktiven Prozess, der alle Beteiligten zum Subjekt der Integration macht, alle Betroffenen & ihre Kulturen verändert. Weil sich alle bewegen. Auf dem Boden der Menschenrechte. Die Blicksche Integration ist die Unterwerfung der einen durch die anderen. «Wer bleiben will, soll sich integrieren.» Gibt der Blick den Tarif durch. Und definiert die «Grundlagen des Zusammenlebens», die, vermutlich, im kleinen Kreis formuliert worden sind. Bestehend aus «fünf Werten, fünf Pflichten und fünf Normen. Grundaussagen, die für alle verständlich sind: Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Recht steht über der Religion. Jeder beherrscht eine Landessprache. Und so weiter.»
Welcher Schweizer Alltag?
Zu den Pflichten gehört laut Blick: «Jeder nimmt am Schweizer Alltag teil.» Nur, was ist der Schweizer Alltag? Das von Alan Cassidy in seinem Blog verspottete eidgenössische Klischee: «Sie beginnen den Tag auf dem Melkschemel und lassen ihn am Alphorn ausklingen. Dazwischen erscheinen Sie pünktlich zur Arbeit. Oder so ähnlich.» Was ist der Schweizer Alltag? Die kaum durch Schlaf unterbrochene Online-Präsenz eines Devisenhändlers, der, digital, durch die globalen Zeitzonen hetzt? Die Nachtschicht einer Altersheimpflegerin? Der Tag eines Kindergärtners, der es am Abend als DJ rocken lässt? Die Frühschicht einer Lebensmitteltechnologin, welche die Produktion von Pommes Chips überwacht und um 14.00h die Kinder vom Mann übernimmt? Die Woche eines Hausbesetzers oder einer Videokünstlerin?
Der Blicksche Integrationsvertrag ist exklusiv. Zwar wird er im Lead noch für «alle Migrantinnen und Migranten» lanciert, aber im massgeblichen Lauftext gilt nur noch: «Jeder Flüchtling soll diesen Vertrag unterschreiben.» Gemeint sind vermutlich alle anerkannten Flüchtlinge, die anderen – die erst ein Asylgesuch gestellt haben, deren Gesuch abgelehnt worden ist sowie die vorläufig Aufgenommenen – sollen ja eben gerade nicht integriert werden, sonst könnten sie sich am Ende noch als «Härtefälle» vor der Ausschaffung drücken. Das heisst, von den total rund 2 Millionen «Migrantinnen und Migranten» bleiben gerade mal knapp 47‘000 potenzielle Vertragsunterzeichner*innen zurück. Allzu viel Arbeit wollen sie sich im Hause Ringier ja denn doch nicht machen. Hauptsache, der Vertrag schlägt «hohe Wellen» (BlickamAbend, 19.4.) und bewegt «die Schweiz» (Blick online, 20.4.).
Alle anderen Ausländer*innen und vor allem wir Besitzer*innen eines Schweizer Passes müssen nicht unterschreiben, dass wir – so Elemente des Blickschen Normenkatalogs – unser Gesicht zeigen und einander bei der Begrüssung sowie beim Abschied die Hand reichen. Dass wir – als Andenken an unsere (Geschäfts-)Reisen – keine «Konflikte aus anderen Ländern und Kulturen» in die Schweiz tragen. Dass niemand «aus religiösen Gründen gezwungen werden» darf, «etwas zu tun oder zu unterlassen, das er oder sie nicht will». Ausgenommen Kinder. Die werden in faktisch allen Religionen getauft & in einen spirituell-ideologischen Kontext eingebunden, bevor sie Nein sagen können.
Wohin mit dem Integrationsvertrag?
Mindestens so interessant wie die «15 klaren, für jeden verständlichen Grundaussagen» ist das, was nicht drinsteht. Zwar soll die Freiheit in allen Formen «verteidigt» werden; Gerechtigkeit, gegenseitige Unterstützung, Solidarität allerdings gehören so wenig zu den Grundlagen des Zusammenlebens wie eine nachhaltige Lebensweise und die gewaltfreie Lösung von Konflikten. Zufall? Oder wissen die Verantwortlichen genauso gut wie wir, dass der geblickte Vertrag wertlos ist – weil seine Inhalte und vieles mehr in unseren VerfassungenGesetzenVerordnungen stehen und für alle gültig sind, ob sie nun irgendein Papier unterschreiben oder nicht. Dass, umgekehrt, Sitten & Gebräuche (vom bundesrätlich gestärkten Händeschütteln bis zum gelüfteten Hut) nicht erzwingbar sind – weder bei Schweizer*innen noch bei Ausländer*innen.
Der Blick fordert: «Jeder Flüchtling, der in der Schweiz leben will, soll einen Integrationsvertrag unterschreiben. Damit verpflichtet sich er oder sie, unsere wichtigsten Werte, Pflichten und Normen zu respektieren.» Und verspricht dem auserwählten Zirkel anerkannter Flüchtlinge: «Der Integrationsvertrag gibt Ihnen darüber hinaus die Sicherheit, dass Sie hier willkommen sind – weil Sie uns Schweizern damit versprechen, die Spielregeln einzuhalten.» Wie zeigt der Blick den Betroffenen, dass sie «hier willkommen sind»? Bekommen sie, als Willkommenspräsent, alle das Boulevardblatt? Gratis. Jeden Abend. Von Montag bis Freitag. Ausser am Sechseläuten, dann stehen die integrierten Redaktor*innen vom BlickamAbend womöglich am Zürcher Strassenrand.
Und was passiert mit den Flüchtlingen, die den Marschbefehl des Blicks nicht befolgen? Diesen Vertrag nicht unterschreiben. Chefredaktor Dorer schreibt vollmundig, wer Flüchtlinge integrieren möchte, die dauerhaft hier bleiben, «der muss interessiert sein an klaren Regeln. Und durchgreifen gegen jene, die sie brechen. Wenn es die Politik nicht angehen will, dann tut es eben die Blick-Gruppe.» Steht das Ausschaffungskommando an der Dufourstrasse in Zürich schon bereit?
Und, noch interessanter, was machen jene im Blick gefeierten und alle anderen Migrant*innen – welche die Blicksche Vereinbarung sofort unterschrieben haben, noch unterschreiben werden & glauben «Das hilft einem bei der Integration» (Blick online, 20.4.2017) – mit dem als PDF downgeloadeten & unterzeichneten Vertrag? An den Kühlschrank pinnen? Darüber steht im Blick so wenig wie über den verbindlichen Vertragspartner der gutgläubigen Unterzeichner*innen. Nicht einmal im Kleingedruckten. Post wollen sie offensichtlich auch nicht beim Blick. «Der Integrationsvertrag» – eine Mogelpackung? – «hat aber auch eine wichtige psychologische Bedeutung. Er dient zur Aufklärung und Ermahnung, bietet aber auch die Grundlage für Sanktionen, falls jemand später einmal gegen seine Selbstverpflichtung verstösst.» Selbstverpflichtung. Selbstgeisselung. Vertrag ohne Vertragspartner*in. Alles nur Werbung. Für ein Blatt in der Krise. Oder was?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ach, lieber Herr Meier – Sie scheinen «Pünktli-Schiesser» (ich bitte um Entschldigung…) zu sein. Ich bin kein BLICK-Leser, anerkenne aber gute Ideen. Auch wenn diese vom BLICK kommen. Ob das im, wie Sie meinen, Zusammenhang der Wirtschaftlichkeit des Blattes steht, soll nicht zur Diskussion stehen. Wichtiger sind (eben) offene Diskussionen, wie man die Immigranten besser integrieren soll und muss.
Und hier bietet ein solcher «Vertrag» eine interessante Diskussions-Plattform. Finden Sie nicht auch?
Beste Grüsse – Peter C Frey
Warum soll der Blick eine gute Idee nicht auch wirtschaftlich ausnützen? Machen doch alle anderen auch, oder?
Die Idee eines Vertrages mit Leuten aus fremden Kulturräumen, die bei uns bleiben wollen, trage ich schon lange mit mir im Kopf herum. Denn wie um Himmels Willen soll einer aus dem Osten von Afghanistan wissen, welche Werte bei uns gelten? Und warum soll man solchen Leuten nicht klar machen, dass bei uns einfach ein paar andere Regeln des Zusammenlebens gelten als in ihrer Heimat? Da dürfen wir durchaus darauf bestehen, dass kein Weg daran vorbei führt. Jetzt bereits an Details herumnörgeln bringt uns nicht weiter. Die Idee zählt. Denn ohne gelebte Integration leiden die Zuzüger genauso wie wir.
Die Kritik von Jürgmeier am Inhalt des «Vertragstextes» ist zwar weitgehend berechtigt. Aber diese Initiative kann auch positiv gesehen werden: der Mut, einen solchen Text vorzulegen, verdient Anerkennung. Diese Diskussionsgrundlage müsste noch tüchtig gehobelt und gefeilt werden, dann könnte daraus noch etwas Taugliches werden. Und das Verfahren müsste ebenfalls definiert werden, da hat Jürgmeier völlig recht. Franz Wyss