Vor Ort auf Lesbos (2): Flüchtlingsansturm hält an
Lesbos, Anfang Februar, zwei Kilometer südlich des Flughafens von Mytilini. Auf einem Schotterplatz zwischen Strasse und Meer stehen acht Autos, Jeeps, Lieferwagen, alle in Richtung Wasser geparkt, in Richtung Osten, wo hinter der türkischen Küste die Sonne aufgeht. Am Strand liegt ein aufgeschlitztes Schlauchboot, ein paar Wärmedecken wehen im heftigen Wind. In den Autos warten die freiwilligen Helfer – auf ihren Einsatz, auf die Ankunft der Boote. Alles wie immer also? Mitnichten.
Verwirrung unter den Helfern
Als die Nachricht die Runde macht, dass Boote unterwegs sind, bricht weniger Hektik aus als sonst. Als das erste Boot am Horizont erkennbar wird, sagt eine Helferin in neongelber Jacke: «Wir warten ab. Ich denke nicht, dass sie es bis zu uns schaffen.» Und tatsächlich: mit hoher Geschwindigkeit nähert sich von Norden her ein Schiff der griechischen Küstenwache. Es fährt auf das Schlauchboot zu, nimmt die Flüchtlinge und Migranten auf und dreht ab in Richtung Mytilini. Am Strand stehen die Helferinnen und Helfer und wissen nicht, was sie davon halten sollen. Während Monaten haben sie über die Behörden geflucht und die Rettungen im Alleingang durchgeführt. Und jetzt nimmt ihnen plötzlich die Küstenwache die Arbeit ab? Die einen sind erleichtert, die anderen skeptisch – seit ein paar Tagen herrscht Verwirrung unter den Helfern von Lesbos.
Neue Rolle für Küstenwache
Erstmals seit dem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen Mitte 2015 scheint sich die griechische Küstenwache ernsthaft und proaktiv an der Rettung von Bootsflüchtlingen zu beteiligen. Zusammen mit der EU-Grenzschutzorganisation Frontex fährt sie die Nord- und Ostküste der Insel ab, stoppt Boote und erspart den Flüchtlingen so einen Teil des gefährlichen Weges. Zwischen 50 und 80 Prozent aller Boote würden mittlerweile abgefangen, schätzen die Rettungsorganisationen vor Ort. Allein am Dienstag brachten die Behörden laut Nachrichtenagentur ANA tausend Personen sicher in den Hafen. Das bedeutet: Weniger Gefahr für die Flüchtlinge, weniger Arbeit für die Freiwilligen – und vielleicht: weniger Tote in der Ägäis.
Viele Tote, Forderung
Trotz Kälte und unruhiger See haben in diesem Jahr bereits mehr als 60‘000 Personen die Überfahrt auf die griechischen Inseln gewagt. Die Folge: Allein im Januar dürften zwischen 250 und 350 in der Ägäis ertrunken sein, die meisten von ihnen auf Strecken, die kaum mehr als 10 Kilometer lang sind. Seit Monaten kritisieren Helfer vor Ort deshalb die Behörden für ihre Passivität und fordern die Errichtung einer sogenannten «safe passage» – eines sicheren Übergangs für Flüchtlinge aus der Türkei. Sind sie nun bald am Ziel?
Bild: Christian Zeier
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die mit einem Team auf Lesbos präsent ist, gibt sich zurückhaltend: Alleine mit dem Aufsammeln der Flüchtlinge werde die Überfahrt nicht sicherer, sagen sie. Noch sei es zu früh, um die Entwicklung beurteilen zu können. «Im Moment warten alle ab, wie sich die Lage entwickelt», erklärt auch Michael Räber, der seit Monaten als Helfer auf Lesbos aktiv ist. Am ehesten lasse sich die aktuelle Situation als «safe passage light» bezeichnen. «Es scheint, als wollten die Griechen zeigen, was sie können und was diese Massnahmen kosten.»
Rückschiebung in die Türkei als sicheres Land?
Laut der griechischen Zeitung Ekathimerini hat die griechische Regierung am 5. Februar bekannt gegeben, dass sie die Türkei als «safe country» anerkennen will. Damit könnten Migrantinnen und Migranten, welche die Türkei als Transitland benutzten, in die Türkei zurückgebracht werden.
Auch die EU hat einen solchen Schritt schon in Erwägung gezogen – allerdings scheiterte eine entsprechende Einstufung bisher an der Kritik, die Türkei sei kein rechtstaatlich unbedenkliches Land und somit nicht sicher für die zurückgewiesenen Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten.
EU-Druck auf Griechenland
«Wir werden Einfluss ausüben, dass Griechenland seine Hausaufgaben macht», sagte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière Ende Januar. Der Schutz der griechischen Grenze weise «dauerhafte Defizite» auf. «Die Griechen müssen die Konsequenzen tragen», doppelte der belgische Migrations-Staatssekretär Theo Francken nach. Man müsse über einen möglichen Ausschluss aus dem Schengen-Raum diskutieren.
Die griechische Regierung aber verharrt auf ihrem Standpunkt: Die Seegrenze zur Türkei lasse sich nicht endgültig abdichten, sagte Ioannis Mouzalas, Minister für Migration. Wenn Menschen aus der Türkei kämen, müsse man diese aufnehmen – so laute das Gesetz. Sein Land unternehme aber alles, um die Überwachung zu verbessern und die Flüchtlinge zu registrieren. «Ohne die Unterstützung der EU geht das allerdings nicht.»
Es ist ein Tauziehen zwischen den Ländern, das bis zum nächsten EU-Gipfel am 18. Februar anhalten wird. Die Helfer auf Lesbos hoffen daher, dass die Küstenwache ihre aktive Rolle bis dahin aufrechterhalten wird – vielleicht sogar länger. Die ganz optimistischen unter ihnen planen bereits, ihren Einsatz auf eine andere Insel, nach Athen oder nach Istanbul zu verlegen. Diejenigen hingegen, die schon etwas länger dabei sind, erinnern sich an die vergangenen Monate: Hoffnungsschimmer gab es schon oft. Mehr als wenige Tage blieben die Strände nie leer.
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Siehe:
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Christian Zeier arbeitet als freier Journalist in Bern, unter anderem für die NZZ am Sonntag, die Berner Zeitung und die Zeit. Mehr von ihm auf seiner Webseite.