Sperberauge

Ungarn: Juristen mit Rechtsempfinden

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  170 ungarische Rechtsanwälte haben gegen Orbans unmenschliche Politik einen Offenen Brief veröffentlicht.

Viele EU-Bürger, und natürlich auch wir Schweizer, haben sich gewundert – um nicht zu sagen: massiv geärgert – wie Ungarn mit den Flüchtlingen aus den Bürgerkriegszonen des Nahen Ostens umgegangen ist und noch immer umgeht. Immerhin wurden vor nur zwei Generationen, im Jahr 1956, 200’000 Flüchtlinge aus Ungarn in westlichen Ländern aufgenommen – und damals herrschte im westlichen Europa tatsächlich eine Willkommenskultur gegenüber den Flüchtlingen aus dem Osten. Auch Infosperber hat darauf hingewiesen.

Fast untergegangen ist dabei, dass es auch in Ungarn selber zu Protesten gegen das unmenschliche Vorgehen der Regierung Orban gab. Das sei hier ausdrücklich nachgeholt. Nicht nur der Fairness wegen, auch als Hoffungsschimmer, denn einer der bemerkenswerten Proteste kam von Seite der Juristen – und das ist besonders erfreulich. In den meisten Ländern werden die Juristen ja vor allem kritisiert, weil sie immer genauere und immer neue Regulierungen verlangen. Aus Italien aber zum Beispiel wissen wir, dass die Anwälte und Richter fast noch die einzigen sind, die sich gegen die trüben Machenschaften von Silvio Berlusconi und auch gegen die äusserst kriminellen Praktiken der verschiedenen Mafia-Clans zu wehren getrauen.

170 Juristen unterschreiben Offenen Brief

Schon vor Monatsfrist wurde in Ungarn der folgende Offene Brief veröffentlicht:

»Wir Rechtsanwälte, die den vorliegenden offenen Brief unterzeichnet haben, sind uns darüber vollkommen im Klaren, wie schwierig Ungarns gegenwärtige Lage ist, wie große Aufgaben die Versorgung und Aufnahme von mehreren Tausenden Flüchtlingen, die täglich an der ungarischen Grenze ankommen, bedeuten.

Die Lösung dieses komplexen Problems liegt im Bereich der Fremdenpolizei, der Logistik, humanitärer Hilfe, und nur zum Teil geht es hier um eine juristische Frage. Man kann mit juristischen Mitteln nämlich keinen Zauber treiben. Die juristischen Instrumente, die die Regierung für eine Lösung anzuwenden beabsichtigt, werden nicht helfen können.

Das ungarische Justizwesen ist keine Flüchtlingsorganisation, es ist nicht in der Lage, binnen der vorgegebenen kurzen Zeit die Sache von so vielen Menschen wirklich gesetzmäßig und gerecht zu beurteilen und Beschlüsse zu fassen, weil dies einfach nicht möglich ist. Die jetzt verabschiedeten Rechtsvorschriften verstoßen nämlich gegen alle von Ungarn unterzeichneten völkerrechtlichen Abkommen, das in Ungarn unmittelbar geltende europäische Gemeinschaftsrecht, das ungarische Grundgesetz und allgemeine Rechtsgrundsätze.

Diese Rechtsvorschriften beantworten darüber hinaus keine Fachfragen oder sie bieten keine Hilfe in einzelnen rechtlichen Situationen im engeren Sinne, die in den eingeleiteten Verfahren ganz bestimmt vorkommen werden. Dadurch entstehen Situationen, die rechtmäßig nicht gelöst werden können.

Gesetzwidrig und ungerecht ist,
– dass minderjährige Angeklagte nicht den gleichen Schutz bekommen, wie das allen anderen minderjährigen Personen vor einem ungarischen Gericht zusteht,
– dass der Angeklagte die gegen ihn erhobene Anklage und das gefällte Urteil nicht in seiner Muttersprache lesen kann, obwohl das gesetzlich jedem und in jedem Rechtsstaat vor dem Gericht zusteht,
– dass «ein Hausarrest» für die Belasteten in einem Lager oder einer Unterkunft angeordnet wird, wo sie nicht einmal von den Rechten Gebrauch machen können, die jeder Person, die festgenommen wurde, zustehen (Gespräch mit einem Strafverteidiger, Telefonat),
– dass die Gerichte in Belangen von Personen mit nicht geklärter Identität vorgehen werden,
– dass wenn die Zustellung durch den Strafverteidiger erfolgt, die Person, die sich an einem unbekannten Ort aufhält, keine Chance hat, über den Ausgang des Verfahrens gegen sie Informationen in irgendeiner Form zu erhalten,
– dass in Belangen, in denen immer ein Gerichtssenat vorgehen würde, Einzelrichter Urteile fällen werden,
– dass der Tatverdächtige sein Recht auf ein ordentliches Asylverfahren verliert, ohne dass ein Gericht ihn verurteilt hat.

Wir erwarten von diesen Menschen, dass sie «unsere Gesetze» einhalten, ohne ihnen den Schutz «unserer Gesetze» zu gewähren.
Deshalb fordern wir die Regierung Ungarns auf, dem Parlament Vorschläge vorzulegen, die den fundamentalen Grundsätzen des Rechts und der Rechtssetzung, dem gesetzten EU-Recht und den ungarischen Rechtsvorschriften gerecht werden.

Wir bitten unsere Kolleginnen, Kollegen Richterinnen, Richter und Staatsanwältinnen, Staatsanwälte, dass sie entsprechend ihrem Amtseid ihren Pflichten als Jurist nachkommen, und sie nicht nur das Recht pflegen, sondern diesen Menschen Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Sie sollten die Gesetzwidrigkeiten, die in den neuen Rechtsvorschriften Gesetzeskraft erhalten haben und deren Anwendung zu krassem Unrecht führt, feststellen, und die Sachen, die ihnen vorgelegt werden, dem Ungarischen Verfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen.

Kolleginnen und Kollegen, Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, wir sind überzeugt, dass die Verfahren und Urteile, die aufgrund dieser Regelung geführt und gefällt werden, nicht mit der Würde unseres Berufstandes zu vereinbaren sind. Es ist einfach unmöglich, das Ansehen der ungarischen Justiz zu bewahren und gleichzeitig in diesen Verfahren begründete Urteile zu fällen.

Und was die Strafverteidiger angeht: die Aufgabe der Rechtsanwälte besteht darin, die Rechte der Angeklagten, egal woher sie kommen und was sie begangen haben, mit allen Mitteln des Rechts zu verteidigen. Und nun soll hier ein Zitat von Károly Eötvös stehen: «Der Angeklagte braucht einen Strafverteidiger». Und der Verteidiger hat seinen Pflichten nachzukommen. Unabhängig von den Aspekten der Tagespolitik. Wir bitten unsere Kollegen darum.

Ungarn, 15. September 2015

(Der ungarische Originaltext und die Namen der unterzeichnenden Rechtsanwälte kann unten eingesehen und downgeloadet werden.)


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