Ungarn erklärt Menschlichkeit zum Verbrechen

Tobias Tscherrig /  Ungarn kriminalisiert Obdachlose und Flüchtlingshelfer. Das Asylrecht wird verschärft, die Versammlungsfreiheit eingeschränkt.

Mit 160-Ja zu 18-Nein Stimmen verabschiedete das ungarische Parlament am 20. Juni ein weitreichendes Gesetzespaket, dass die ohnehin schwierige Lage von Obdachlosen weiter verschärft. Für das klare Ergebnis waren die Stimmen der rechtskonservativen Regierungspartei Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán und die Voten der rechtsradikalen Jobbik-Partei ausschlaggebend.

Neu ist es Obdachlosen im ganzen Land verboten, sich an öffentlichen Orten aufzuhalten oder niederzulassen. Mit dem Entscheid kriminalisiert Ungarn Obdachlose: Wer gegen das Gesetz verstösst, wird mit Geldstrafen – und im Wiederholungsfall – sogar mit Freiheitsentzug bestraft.

Bereits seit Herbst 2013 gilt im osteuropäischen Land ein Aufenthaltsverbot für Obdachlose auf öffentlichen Plätzen. Allerdings beschränkte es sich «nur» auf gut frequentierte Bereiche in der Innenstadt und auf Touristenattraktionen.

50’000 Menschen in die Kriminalität getrieben
Gemäss den Zahlen der Vereinten Nationen (UN) gibt es in Ungarn aktuell rund 50’000 Obdachlose. Seit der Einführung des Gesetzes sind sie alle kriminell – wenn sie sich an öffentlichen Orten aufhalten. Die UN kritisiert das neue Gesetz scharf: «Ungarns Vorstoss, Obdachlosigkeit zu einem Verbrechen zu erklären, ist grausam. Das ist unvereinbar mit internationalen Menschenrechten.» Die UN warf der ungarischen Regierung vor, Obdachlose «de facto in die Illegalität zu treiben».

Auch die Nichtregierungsorganisation (NGO) «Amnesty International» verurteilte das neue Gesetz. Es werde schwerwiegende und dramatische Folgen für Menschen haben, die sich bereits in einer äusserst prekären Situation befänden.

Flüchtlingshelfer kommen unter die Räder
Das Gesetzespaket zielt nicht nur auf Obdachlose. Auch Flüchtlingshilfsorganisationen sind davon betroffen, ihre Arbeit kann nun ebenfalls unter Strafe gestellt werden: Flüchtlingshelfer, denen «Förderung zur illegalen Migration» nachgewiesen wird, können in Ungarn neu mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Darunter fällt bereits das Produzieren und Verteilen von entsprechendem Informationsmaterial. Wer einen Auftrag zur Produktion von Informationsmaterial ausspricht, macht sich ebenfalls strafbar.

So kriminalisiert die ungarische Regierung Flüchtlingshelfer und macht sie aufgrund ihrer Menschlichkeit zu Staatsfeinden.

Künftig kann auch die Versammlungsfreiheit unter Berufung auf die Wahrung der Privatsphäre von Anwohnern eingeschränkt werden: Der nächste Schritt zum Abbau der Demokratie und des Rechtsstaats von Ungarn.

Das verabschiedete Gesetz wird in Ungarn auch als «Stop-Soros-Paket» bezeichnet. Der Name spielt auf US-Milliardär George Soros an, der NGOs auf der ganzen Welt unterstützt. Darunter auch solche, die in der Flüchtlingshilfe tätig sind.

Das Gesetzespaket ist nicht die erste Vorlage, die auf die Arbeit von NGOs zielt. Bereits seit 2017 gilt in Ungarn ein Gesetz, das allen Nichtregierungsorganisationen mit einer jährlichen Förderung von über 23’000 Euro aus dem Ausland vorschreibt, sich als «vom Ausland unterstützte Organisation» zu bezeichnen.

Ungarn schottet sich ab
Mit einer Verfassungsänderung hat das ungarische Parlament zudem das Asylrecht verschärft. Im Grundgesetz ist nun verankert, dass «keine fremden Völker in Ungarn angesiedelt werden dürfen» und die staatlichen Organe die «christliche Kultur Ungarns» verteidigen müssen. Neu wird Ungarn jeden Asylantrag ohne Verfahren abweisen, wenn die Antragsstellenden über ein Land einreisen wollen, indem sie keiner schwerwiegenden Gefahr oder Verfolgung ausgesetzt sind.

Damit wird Ungarn in Zukunft keine Asylsuchenden aus Serbien, wie auch aus allen anderen Nachbarstaaten mehr aufnehmen. Für die Regierung in Budapest gelten diese Länder als sichere Drittstaaten. Also kann in Ungarn so gut wie niemand mehr Asyl beantragen.

Vor der neuerlichen Verschärfung des Asylgesetzes durften an der serbisch-ungarischen Grenze pro Werktag genau zwei – von den Behörden ausgewählte – Personen um Asyl bitten, die danach unter unwürdigen Bedingungen in Internierungslager gesperrt wurden.

Selbst diese Einschränkungen waren dem ungarischen Parlament zu wenig. Bei derartigen Entscheiden erstaunt es kaum, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, Flüchtlinge permanent als «Gesundheits- und Terrorrisiko» bezeichnet und sowohl in der EU als auch auf dem Westbalkan für seinen Kurs der totalen Abschreckung wirbt.

Orbán kümmert keine Kritik
In Ungarn und auf der internationalen politischen Bühne, wurden die Verfassungs- und Gesetzesänderungen massiv kritisiert. Zu den Kritikern gehörte unter anderem auch die Europäische Volkspartei (EVP), der die Fidesz-Partei von Orbán angehört. Der ungarische Ministerpräsident, der im April die dritte Parlamentswahl in Folge mit überwältigender Mehrheit gewann, lässt sich davon nicht beirren. «Wir haben die Mehrheit für Änderungen, also verabschieden wir sie», sagte er.

Wie gleichgültig ihm Kritik aus Brüssel und anderswo ist, zeigt Orbáns Aussage während einer Gedenkrede für Helmut Kohl. Er werde einem allfälligen Ausschluss seiner Fidesz-Partei aus der EVP zuvorkommen, drohte er. Dazu wolle er eine neue gesamteuropäische Parteienfamilie gegen Einwanderung gründen, welche bereits an der Europawahl 2019 antreten könnte. Dann relativiert er die Drohung und erklärt, vorläufig widerstehe er dieser Versuchung: Er werde der EVP aber dabei helfen, zu ihren christdemokratischen Wurzeln zurückzufinden.

Viktor Orbán hat von der Flüchtlingskrise und den Wahlsiegen von rechtspopulistischen Politikern in Italien und in Österreich profitiert. Sie haben ihn gestärkt. Der ungarische Ministerpräsident fordert den vollständigen Migrations- und Einwanderungsstopp in Europa, daneben will er auch den Liberalismus abschaffen. In seiner Vorstellung sieht er die Europäische Union als Allianz christlich-nationalkonservativer Staaten.
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5 Meinungen

  • am 27.06.2018 um 14:23 Uhr
    Permalink

    Meine Freundin ist Ungarin. Ich besuche das Land mind. 2-mal pro Jahr. Ich weiss, dass vor allem auf dem Land eine ziemliche bis grosse Armut herrscht. Aus meiner Sicht dient es da niemandem, Ungarn noch mit tausenden Flüchtlingen zu «überfluten». Ich bin kein Orban-Fan. Doch ich kann und will die Haltung der EU und der Mainstream-Medien (der sich in diesem Punkt leider auch der Infosperber anschliesst) nicht gelten lassen, das Vorgehen Ungarns zu kritisieren. Soll die EU doch mal dafür schauen, dass sie etwas gegen die Problem-Ursachen unternimmt: Nämlich wirklich etwas zu unternehmen gegen Krieg, Armut, Kriminalität und Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländer der Flüchtlinge.

  • am 27.06.2018 um 21:07 Uhr
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    Das kann man in einem Satz zusammenfassen: Kriminelle erklären per Parlamentsbeschluss Unschuldige zu Verbrechern.

  • am 28.06.2018 um 21:49 Uhr
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    @Jonas Kiser

    Was Sie schreiben, hat mehrere Haken:

    Erstens: Die bekannte Armut in Ungarn ist bestens bekannt, hat aber nichts mit den Flüchtlingen zu tun. Eine Vermischung ergibt keinen Sinn.

    Zweitens: Die per Gesetz beschlossene Kriminalisierung ist eine Tatsache. Eine Gegenargumentation von Ihnen ist sinnlos, weil sie absurd ist. Die Gesetze richten sich in der Tat gegen die Menschlichkeit. Falls Sie aber eine neue Definition für die Menschlichkeit haben, teilen Sie es doch mit. Oder wollen Sie die Menschlichkeit abschaffen?

    Drittens: Ob Sie etwas gelten lassen oder nicht, wie die berechtigte Kritik, ist Ihr Problem. Das erledigen andere für Sie, die es können.

    Viertens: Dass die Ursachenbekämpfung ein Riesenproblem darstellt, ist allgemein bekannt. Aber damit driften Sie vom Thema ab, denn es geht um die Kritik an Viktor Orbán und seinen Kumpanen.

    Fünftens: Seit wann dienen Flüchtlinge jemanden? Es geht nicht um Dienlichkeit oder Nützlichkeit.

    Sechstens: Viktor Orbán und seine Kumpanei befinden sich in der Vorstufe zur Diktatur, wovon deren Hang zur »illiberalen Demokratie« zeugt, die sie auch praktizieren.

  • am 29.06.2018 um 10:35 Uhr
    Permalink

    Das Bashing über Russland, Polen, Türkei und Ungarn ist unerträglich. In diesen Ländern werden Menschenrechte mit Füssen getreten, Wahlen gefälscht und sie befinden sich in der Vorstufe zur Diktatur. Und alles nur, weil sie nicht EU-konform sind und die «europäischen Werte» missachten. Viktor Orban «mit seinen Kumpanen», Putin, Morawiecki, und Erdogan sind demokratisch gewählt. Es gilt, gottseidank, die Selbstbestimmung der Völker. Dies haben wir zu akzeptieren. Hört endlich auf, über andere Länder, so lange sie nicht völkerrechtswidrige Kriege führen, überheblich und schulmeisterlich zu urteilen und richten. Dies macht der Autor als Pharisäer und Schriftgelehrter.

  • am 30.06.2018 um 06:38 Uhr
    Permalink

    @ Paul Stolzer

    »Das Bashing über […]«
    Wie unerträglich ist es zuzusehen, wenn die Mächtigen in den genannten Ländern an Demokratie überhaupt nicht interessiert sind und ihre Bürger und Medien knechten??

    »In diesem Ländern werden Menschenrechte mit Füssen […]«
    Richtig erkannt, aber es geht bei der Kritik nicht darum, weil die Genannten nicht EU-konform sind. Es geht darum, weil die Mächtigen (siehe oben) die Menschenrechte missachten und bewusst gegen die Menschlichkeit vorgehen. Oder etwa nicht??

    »[…] Selbstbestimmung der Völker […]«
    Sie wissen ganz genau, dass die Selbstbestimmung der Völker in diesen Fällen eine Bestimmung der Mächtigen ist.

    »[…] so lange sie nicht völkerrechtswidrige Kriege führen […]«
    Selbst völkerrechtskonforme Kriege kennen nur Verlierer. Deshalb ist Kritik bereits dann angebracht, bevor es überhaupt zu Kriegen kommt.

    »[…] Pharisäer und Schriftgelehrter […]«
    Woher haben Sie das denn??

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