Sprachlupe: Ist «ihr» statt «Sie» auf Hochdeutsch unhöflich?
«Sehr erstaunt, eher verärgert» sei sie gewesen, schreibt mir eine Leserin, als eine deutsche Ärztin ihr gesagt habe: «Ihr könnt euch jetzt ausziehen.» Die Leserin (aus meiner Generation) empfand es als abschätzig und sagte das der Frau Doktor. «Da meinte sie nur, das sei halt so eine Eigenart des Bairischen.» Das ärztliche Idiom klang aber nicht so bairisch, wie es die aus dem Rheintal stammende Patientin kennt. Weder sie noch die Wikipedia wissen etwas von einer Höflichkeitsform «ihr» in bairischen Dialekten.
Auch ich bin von einer Praxis-Empfangsdame aus Deutschland schon geihrzt worden – sie hatte sich das in Bern angewöhnt, weil sie sich hiesigen Bräuchen anpassen wollte. Dass es mir aus deutschem Munde seltsam vorkam, nahm sie erstaunt zur Kenntnis, und ich weiss nicht, wie sie die Hilfesuchenden heute anredet. Die Leserin schreibt weiter: «Im Berner Dialekt gefällt mir das ‹ihr› etc. Aber man kann es meiner Meinung nach nicht einfach in andere Sprechweisen übertragen.» Das finde ich ebenfalls; gewundert hat mich die Anpassung auch schon bei einer Ostschweizerin mit häufigem Patientenkontakt in Bern. Die Leserin aus der Ostschweiz wiederum erinnert sich «aus der Kindheit, dass bei uns in der Gegend wir armen Leute sowie Knechte und Mägde mit ‹ihr› angesprochen wurden, und das brachte eindeutig zum Ausdruck, dass man als sozial tieferstehend angesehen wurde.»
Über- und Unterpersonen
Abschätziges Ihrzen war mir neu, zumal mein Aargauer Schwiegervater seine Eltern zeitlebens geihrzt hatte. Einerseits Ehrerbietung, sogar in der Familie, anderseits Herablassung – beides bestätigt die Archivtrouvaille «Siezen, Ihrzen, Duzen» auf der Website der NZZ. 1953 besprach das Blatt den soeben erschienenen Bandanfang D/T des Idiotikons. In diesem riesigen schweizerdeutschen Wörterbuch gibt es vom 15. Jahrhundert an Belege, wonach man Respektspersonen «ihr» statt «du» zu nennen hatte.
Zur Anrede «Sie» für «Leute höheren Standes» erklärte der Rezensent, sie gelte «eigentlich der Überperson des Titels statt dem Menschen», sei vom Adel aufs höhere Bürgertum übergegangen, «und im 19. Jahrhundert übernehmen dann in der Ostschweiz alle Schichten dieses Zeichen der beseitigten Standesunterschiede». Östlich der Reuss sei das Ihrzen «sozusagen zur Unhöflichkeitsform geworden», noch gegenüber Bauarbeitern und Soldaten gebraucht. So «werden Verkäuferinnen in Bern angewiesen, Fremde auf alle Fälle zu siezen», denn die könnten ja das Ihrzen übelnehmen.
«Aune seit me nume dihr»
Heute gilt in jüngeren Generationen fast wieder «auem seit me nume du» wie im Emmentalerlied, und weitherum «nume dihr». Einen «Siezbefehl» ans Verkaufspersonal wird man kaum noch finden – es sei denn indirekt, falls die Kundschaft Hochdeutsch redet und also auch so bedient werden sollte. Gelingt das einigermassen, dann ergibt sich «Sie» von selbst. Im Gegenzug kann es sich deutsches Personal ersparen, hierzulande das Ihrzen zu lernen: Das kann, wie die Klage der Leserin zeigt, falsch ankommen.
Ganz empfindliche Berner Ohren schrecken vielleicht auf, wenn ich ihnen im Laden oder beim Spazieren «Grüessech» sage, dabei aber schier gar wie ein Zürcher klinge. Mein angestammtes «Grüezi» tönt für mich selber nach Jahrzehnten im Bernbiet zu spitz, sofern nichts Weiteres folgt, und so habe ich unwillkürlich die ihrzende Grussformel übernommen. Kenne ich aber das Gegenüber, so sage ich etwa «Grüezi Frau Stirnimaa»; mich störts dann nicht, und sie hoffentlich auch nicht. Dass ich damit zu den «Grüezine» gehöre, weiss ich nicht einmal vom Hörensagen: Das angebliche Synonym zu «Üssärschwizär» steht jedenfalls nicht in «Wallissertitschi Weerter» von Alois Grichting. Laut der «Gebrauchsanweisung für Zürich» von Milena Moser nennen die «Grüessech»-Sager die andern Deutschschweizer allgemein «Grüezine». Wo habt ihr das her, Frau Moser?
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»
— darin: So lesen uns Deutsche gern
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.