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Ärztin in Idomeni verarztet zerschundene Füsse © ha

Schweizer Arzt sah dem Elend ins Gesicht

Susanne Graf /  Sechs Wochen war er «am Nadelöhr der Balkanroute» an der griechisch-mazedonischen Grenze tätig, wo er Flüchtlinge verarztete.

Während sich andere auf frohe Festtage im Kreise ihrer Familien einstellten, reiste Hausarzt Hansueli Albonico von Langnau BE nach Idomeni. Das ist ein kleiner Ort in Griechenland, am Grenzübergang zu Mazedonien.

Als Albonico dort ankam, prägten «Zelte, Polizisten, Militär und ein Bagger zum Unterpflügen der Abfälle» das Bild. In E-Mails berichtete Albonico aus dem Ort, der kein offizielles Flüchtlingslager ist, in dem sich aber immer wieder massenhaft Flüchtlinge stauen, die hoffen, über Mazedonien weiter Richtung Europa reisen zu ­können.

Es habe sich offensichtlich herum­gesprochen, dass nur noch Afghanen, Iraker und Syrer durchge­lassen würden, schrieb Albonico am 19. Dezember. «Nur noch etwa 60 Busse» seien angekommen und sofort weitergeschleust worden. Es gab Zeiten, gesteht der Arzt rückblickend im Gespräch, da habe er fast ein bisschen ein schlechtes Gewissen gehabt gegenüber seiner Frau und dem Team in Langnau, die ihn während seiner sechswöchigen Abwesenheit in der eigenen Praxis vertraten.
Er nutzte die Ruhe, um die Infrastruktur zu erkunden, die «Médecins sans Frontières» im Frühling aufgebaut hatten. Albonico war für die Organisation «Médecins du Monde»im Einsatz.

Anfänglich war seine medizi­nische Hilfe selten gefragt. So begleitete der Arzt eine Familie, die mit einer Rollstuhlpatientin unterwegs war, «bis zum entscheidenden Tor im dichten Stacheldrahtzaun». Nach dem sie eine halbe Stunde auf «lässig rauchende Grenzpolizisten» hätten warten müssen, sah Albonico die Familie «Richtung Freiheit über das Geleise stolpern». Aber erleichtert war er nicht, wusste er doch, «dass sie noch mindestens fünf weitere Grenzen passieren müssen, um dann vielleicht in Deutschland oder der Schweiz doch noch abgewiesen zu werden – unvorstellbar.»

In der Heiligen Nacht übel zusammengeschlagen

«Wenn sich das Flüchtlingsproblem an einzelnen Menschen konkretisiert, wird man eigentlich sprachlos.» Albonico erwähnte in seinem E-Mail-Bericht das Beispiel einer schwangeren Mutter, bei der die Wehen einsetzten. Sie konnte mit der Ambulanz ins nächste Spital eingewiesen werden. Aber würde sie den Rest der Familie wieder finden?


Der Berner Arzt Hansueli Albonico im Einsatz (Bild Stanislav Krupar)
Dann kam Heiligabend. Albonico hatte Nachtdienst. Auf der mazedonischen Seite hatten Grenzwächter eine grössere Gruppe von Flüchtlingen «falscher Herkunft» aufgegriffen und «übel zusammengeschlagen». Der Arzt musste 16 Verletzte versorgen. Als er um Mitternacht das Camp verliess, zählte er 16 Busse voller Flüchtlinge, die zum Teil stundenlang auf Durchlass warteten. Das Bild des nicht abreissenden Flüchtlingsstroms «entliess uns recht ratlos in die Heilige Nacht.»

«Glücksmomente»
Ein paar Tage später berichtete Albonico von einem jungen Afghanen, der sich aus Verzweiflung darüber, dass er «mangels adäquater Papiere» abgewiesen und von seinem Bruder getrennt worden war, am Grenzzaun habe erdrosseln wollen. Der Junge habe behandelt und dank Vermittlung des UNHCR mit neuen Papieren ausgestattet innert 12 Stunden über die Grenze gebracht werden können. Albonico zählt dieses Erlebnis zu seinen «Glücksmomenten».

Plötzlich Grossandrang
Nach Neujahr wurde die Situation an der Grenze zu Mazedonien zunehmend schwierig. Von Einreiserestriktionen aus Ländern entlang der Balkanroute vernahmen die Helfer in Idomeni nichts. Innert Kürze bildeten sich Staus neu anreisender auf der einen und zurückgewiesener Flüchtlinge auf der anderen Seite. Es konnte vorkommen, dass Albonico neun Stunden ohne Unterbruch arbeitete.
Damit das Camp nicht zu einem unbe­rechenbaren Flüchtlingslager anschwoll, hielt Griechenland die Busse an Tankstellen auf. 20 bis 50 Busse hat Albonico an jenem Punkt gezählt, wo er mit seinem Team eine mobile Station einrichtete. Bei plus 5 bis minus 10 Grad hätten die Flüchtlinge in ungeheizten Bussen warten müssen – bis zu 20 Stunden.
Albonico arbeitete unter freiem Himmel, verteilte Wolldecken und Notfallfolien. Die enorme Dankbarkeit habe ihn verlegen gemacht, schrieb er an anderer Stelle. Und er fragte sich: «Müssten wir ihnen sagen, dass für viele von ihnen aus der Hoffnung nichts werden wird?»

Bild Stanislav Krupar
Immer wieder Enttäuschte
Albonico litt unter dem «durchgehend unkoordinierten Vorgehen aller beteiligten Länder» und darunter, «immer diese Enttäuschten auffangen» zu müssen. Nass, hungernd, frierend, zusammengeschlagen, deprimiert würden sie nach Idomeni zurückgeschoben.
Innert Stunden seien er und sein Team zu Spezialisten in der Behandlung von «trench foot», sogenannten Schützen­grabenfüssen, geworden. In den Lehrbüchern würden diese bloss noch als Reminiszenz an den Ersten Weltkrieg erwähnt. Wenn keine trockenen Socken und Schuhe aufzutreiben waren, «begannen wir Fussumhüllungen aus Rettungsdecken zu basteln.»

«Ein Drittel bis die Hälfte aller Flüchtlinge waren Kinder», stellte Albonico fest. Einmal wurde sein Team von einer Filmcrew der BBC begleitet. «Sie haben uns gefragt, ob wir nie weinen müssen nach der Arbeit. – Natürlich tun wir das.»
Am 29. Januar kehrte der Schweizer Hausarzt zurück: «Ich bin auf dem Luftweg exakt über der Balkanroute heimgekehrt: Thessaloniki – Wien – Genf – Langnau i.E. in 6 Stunden. So rasch und reibungslos geht das, wenn man im richtigen Land geboren wurde.»


Dieser Beitrag erschien in der Emmental-Ausgabe der «Berner Zeitung».


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