Putzen als Überlebenskampf
Red. Marianne Pletscher ist Publizistin und seit den 1980er-Jahren Regisseurin von Dokumentarfilmen, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde. Sie ist seit Jahren auf Migrationsthemen spezialisiert. Im Hauptteil ihres Buchs «Wer putzt die Schweiz?» porträtiert die Autorin elf MigrantInnen, die in der Tieflohnbranche der Reinigung tätig sind. Infosperber veröffentlicht zwei leicht gekürzte Kapitel aus dem Buch. Im ersten Teil beschäftigt sich die Autorin mit den wirtschaftlichen und soziokulturellen Aspekten des Reinigungsgewerbes.
Als Witwe vom Land, mit drei Kindern im Zürcher Industriequartier wohnhaft, reinigte meine Grossmutter vor rund hundert Jahren «vornehme Häuser», wie sie das nannte, vorwiegend an der Zürcher Goldküste. Viel erzählte sie nicht, nur dass vom Putzen ihre späteren Knie- und Fingerschmerzen stammten. Damals wurde diese Arbeit fast ausschliesslich von Schweizerinnen erledigt. Meine Grossmutter fand sie noch auf direktem Weg, indem sie «an die Haustüren klopfen ging». Es soll schon einige wenige Reinigungsfirmen gegeben haben. Zahlen habe ich keine gefunden. Für damals. Heute gibt es nachweislich rund 5500 Firmen in der Branche, Zehntausende von privaten Arbeitgebenden, mehr als 200’000 Menschen, die mit Putzen ihr Leben verdienen: legal Angestellte oder Halblegale mit Arbeitserlaubnis und eine grosse Anzahl illegal in der Schweiz lebender Sans-Papiers, von denen wiederum rund die Hälfte in Privathaushalten putzt. Viele arbeiten nur Teilzeit, weil sie Kinder haben und alleinerziehend sind – oder weil sie schlicht und einfach nicht mehr Arbeit finden.
Eine Tieflohnbranche mit Löhnen, die kaum zum Leben reichen, ist die Reinigungsarbeit, seit dafür bezahlt wird. Aber Putzen bot Menschen, die mit sehr wenig Schulbildung und ohne Sprachkenntnisse in die Schweiz kamen, immer auch Möglichkeiten, schnell Geld zu verdienen. Viele arbeiteten von Beginn an schwarz, und der schlechte Ruf, den die Branche und die Arbeit selbst haben, stammen sicher auch aus der Anfangszeit. «Putzen kann jede und jeder, Putzen ist einfach, Putzen ist billig», so die allgemeine Meinung. Doch ganz langsam ändert sich das Bild: Eine gute Putzkraft wird nicht nur körperlich extrem gefordert, sie muss auch planen und rechnen können, sie muss sozial kompetent sein.
Viele Betriebe verstossen gegen Lohnbestimmungen des GAV
In der Geschichte der Reinigungsbranche bilden die 1990er-Jahre eine Zäsur. Viele Betriebe, Banken, Schulen und öffentliche Verwaltungen lagerten ihre Arbeitskräfte in Reinigungsfirmen aus. Diese Privatisierungen führten nicht nur zu deutlich tieferen Löhnen, sondern auch in vielen Fällen zu deutlich schlechteren Sozialleistungen und schwächerem Kündigungsschutz, wie die Gewerkschaft UNIA und der Schweizerische Verband des Personals öffentlicher Dienste VPOD berichten.
Privatisierungen in der Reinigungsbranche, so zeigen neuere Statistiken aus Deutschland, führen zu mindestens zehn Prozent weniger Lohn, sparen aber auf den ersten Blick bis zu dreissig Prozent der Kosten. Die Kostenreduktion findet also auf dem Buckel des Reinigungspersonals statt, wenn die übernehmende Firma nicht bewusst soziale Löhne bezahlt.
Immerhin gibt es in der Reinigungsbranche der Deutschschweiz seit 2004 einen Gesamtarbeitsvertrag GAV. An diesen müssen sich alle Betriebe der Branche mit mehr als fünf Mitarbeitenden halten. Seit dem ersten Vertragsabschluss sind die Löhne laut Angaben der beiden Vertragspartner bis 2021 um rund 28 Prozent gestiegen. Angestellte im GAV der deutschen Schweiz dieser Branche haben Anrecht auf Mutter- und Vaterschaftsurlaub, Erwerbsausfall bei Krankheit und Unfall sowie eine Pensionskasse. Schon längst obligatorisch sind neben den gesetzlich geregelten Ferien auch AHV und ALV. Der Mindeststundenlohn ist mit 19.20 Franken brutto für 2021 und 19.60 Franken für 2022 für Ungelernte immer noch tief, immerhin kommen seit einigen Jahren auch noch hart erkämpfte Feiertagsentschädigungen und ein 13. Monatslohn dazu. Das ergäbe dann bei Vollbeschäftigung Monatslöhne von weniger als 3’500 Franken. Für die Gesamtarbeitsverträge in der Westschweiz und im Tessin gelten leicht andere Bestimmungen.
Der GAV führt aber auch dazu, dass Betriebe kontrolliert und Verstösse bestraft werden können. So wurden im Jahr 2020 in der deutschen Schweiz 194 Betriebe kontrolliert. Bei rund 58 Prozent wurden Verstösse gegen Lohnbestimmungen festgestellt. Dies ist im Vergleich zu anderen Branchen eine extrem hohe Zahl.
Landsleute werden oft ausgenutzt
Nichts ist einfacher, als eine Reinigungsfirma zu gründen. Es braucht kaum Anfangskapital, Personal findet sich immer. Bedeutend schwieriger ist es, ein Unternehmen gewinnbringend zu führen und alle gesetzlichen Vorschriften im Griff zu haben. Oft sind es Migrantinnen oder Migranten, die ihr Glück mit der Gründung einer Putzfirma versuchen und dann in Klein- und Kleinstfirmen Landsleute anstellen. Meine Recherchen zeigen, dass diese oft knapp die vorgeschriebenen Mindestlöhne bezahlen, wenn überhaupt, und oft auch neben ein bis zwei Angestellten weitere Personen schwarz arbeiten lassen, zum Beispiel die Kinder oder andere Verwandte der fest angestellten Reinigungskraft. Dabei mag es eher Unwissen als böser Wille sein, wie bei dem Kleinunternehmer, von dem mir Mila P. erzählte, die sich geprellt vorkam.
Die Frau aus Südosteuropa mit Vorgesetztem aus demselben Land erzählte mir, dass sie abends zum Putzen immer ihre Töchter – die eine zehn, die andere zwölf Jahre alt – mitnahm. Diese waren dann im Brutto-Stundenlohn der kleinen Firma von 22.50 Franken für die Mutter inbegriffen, arbeiteten also gratis. Kinderarbeit ist in der Schweiz streng verboten. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass die Frau sich einen Kinderhütedienst mit dem geringen Lohn gar nicht leisten könnte.
Das Unternehmen hat inzwischen Konkurs gemacht, der Inhaber schuldet Mila P. noch Geld. Ihn anzuzeigen, traute sie sich nicht. Ich habe die Frau im Frühling 2020 kennengelernt, als sie sich in Zürich an der Langstrasse für Gratis-Lebensmittel anstellte, so verzweifelt war sie. Sie hätte Anrecht auf Sozialhilfe gehabt, diese zu verlangen, traute sie sich aber ebenfalls nicht. Sie war dort nicht die Einzige mit solchen Problemen: zu wenig zu essen, weil der ohnehin tiefe Lohn nicht ausbezahlt wurde! Auch das gibt es in der Schweiz.
Immer schneller, immer billiger: Arbeiten unter enormen Druck
Wer genauer wissen will, wie hoch der Preisdruck in diesem Bereich ist, kann sich – wie ich es getan habe – Offerten für eine Haus- oder Wohnungsreinigung zukommen lassen. Für ein und dasselbe Haus, mit identischen Quadratmeterangaben und gleicher Anzahl Fenster, differieren die Offerten um bis zu hundert Prozent. Um konkurrenzfähig zu sein, lassen die Firmen die gleiche Arbeit in immer kürzerer Zeit erledigen. Wer dann bei den billigsten Offerten ohne Pause in atemberaubendem Tempo durchs Haus rasen muss, sind Teilzeitangestellte mit kleinen Pensen. Oft folgen mehrere Einsätze aufeinander. Niemand wäre körperlich fähig, auf diese Weise einen Vollzeit-Job auszuführen. Die Menschen werden krank, ohne gute Krankentaggelder zu haben.
Nur die Wenigsten in der Reinigungsbranche arbeiten Vollzeit, vor allem Frauen nicht. Meist sind sie gar nicht oder schlecht ausgebildet und arbeiten der Kinder wegen nur wenige Stunden abends. Oft sind sie auch alleinerziehend. Die als praktisch geltende flexible Arbeit, verteilt auf mehrere Stellen, ist mit viel Stress verbunden. Genau hier sind also Mindestlöhne besonders wichtig. Ich traf in den oben erwähnten Gratis-Essensabgaben während der Corona-Pandemie immer wieder Migrantinnen, die von ihrem kleinen Lohn nicht mehr leben konnten und trotz einer B-Bewilligung Angst hatten, beim Sozialamt um Unterstützung nachzufragen, weil sie ihre Aufenthaltsbewilligung dadurch verlieren könnten.
Personen, die auf eigene Rechnung in Privathaushalten arbeiten, unterstehen den GAV-Regelungen nicht. Sie gelten als Selbständigerwerbende. Sie müssen meist auch auf viele andere Sozialleistungen, zum Beispiel gute Krankentaggelder und eine Pensionskasse, verzichten. Letztere ist erst ab einem Jahreseinkommen von 21’510 Franken obligatorisch (Stand 2021). Selbständige könnten sich allerdings freiwillig versichern. Meist wissen sie jedoch schlecht Bescheid über ihre Rechte und haben noch nie über ihr Leben im Alter nachgedacht. Bleiben sie in der Schweiz, werden sie von Altersarmut betroffen sein.
Digitale Vermittlungsplattformen: Fluch und Segen
Der grösste Umbruch in der Reinigungsbranche seit den Privatisierungen in den Neunzigerjahren ist die fortschreitende Digitalisierung. Es entstanden Plattformen aller Art, auf denen Arbeitskräfte gesucht und Löhne ausgerechnet werden können. Für internetaffine Kundinnen und Kunden hat dies grosse Vorteile: Mit einem Klick finden sie eine Putzkraft und wissen, was sie kostet.
Für die Arbeitskräfte ist die Bilanz viel durchzogener. Es entstand eine Vielzahl von Firmen, bei denen die Reinigungskräfte nur vermittelt wurden, aber selbständig blieben. Eine Art Uber der Reinigungsbranche, aber gemässigt in dem Sinn, dass die Plattformen AHV/ALV bezahlten und Lohnabrechnungen und Quellensteuern erledigten. Nach einer harten Kritik der Zeitschrift «Beobachter» im Sommer 2020 haben einige der grösseren Player ihr Geschäftsmodell immerhin teilweise angepasst. Während der Covid-19-Pandemie verloren laut Angaben der Gewerkschaften über diese Plattformen vermittelte Putzkräfte öfters ganz kurzfristig ihre Kunden. Eigentlich hätten sie Anspruch auf Kurzarbeit gehabt, aber das wusste kaum jemand.
Es gibt auch positive Entwicklungen im digitalen Bereich. Zum Beispiel die Treuhandfirma Quitt, ein ETH-Spin-Off, erledigt die ganze Administration für Arbeitgeberinnen, die ihre Haushaltshilfe ordnungsgemäss anmelden und alle Sozialleistungen und Versicherungen bezahlen wollen. Diese können selbst entscheiden, wie viel Lohn sie bezahlen wollen, und sehen dann auf einen Klick, was sie das kosten wird. Offenbar sind die Kundinnen der Firma recht grosszügig, der Hauptteil der Angestellten kommt laut Quitt auf einen Brutto-Stundenlohn von zwischen 27 und 30 Franken. Dies vor allem in städtischen Gebieten.
Putzen lassen statt selber putzen: Bitte zu fairen Bedingungen!
Wir alle können als Kundinnen oder Kunden mitbestimmen, dass unsere Putzkraft unter fairen, sozialen Bedingungen arbeitet. Und das betrifft nicht nur die Löhne und Sozialleistungen, sondern auch menschliche Kontakte und eine hohe Wertschätzung für die geleistete Arbeit. Doch viele private Haushalte beschäftigen Putzhilfen immer noch schwarz, sie schliessen dafür weder Versicherungen ab, noch zahlen sie gesetzlich Sozialleistungen.
Es ist durchaus möglich, eine Angestellte im eigenen Haushalt für wenige Stunden selbst anzustellen. Seit 2008 verschicken die kantonalen Ausgleichskassen vereinfachte Abrechnungsformulare. Zu beachten ist: AHV/ALV-Beiträge, Ferien und eine Unfallversicherung sind gesetzlich vorgeschrieben. Alles andere ist illegal. Wenn Arbeitgebende aber auch noch Pensionskasse, Mutterschaftsurlaub, Familienzulagen, Krankentaggelder bezahlen möchten, also die Arbeitnehmenden so behandeln möchten, wie sie selbst gern behandelt würden, wird eine faire Anstellungen für Einzelhaushalte kompliziert und es lohnt sich, mit einer Firma zu arbeiten, die all dies erledigt. (Anm. d. Red.: In einem Kapitel des Buchs porträtiert Marianne Pletscher drei Firmen, die dies auf faire Weise zu anständigen Löhnen tun.)
Schwarzarbeit in jeder Form schadet den Arbeitnehmenden und nützt in der Regel den Arbeitgebenden. Wer illegal eine Putzkraft anstellt, riskiert eine Busse. Wer aber bewusst eine der Sans-Papiers beschäftigt, weil diese ja schliesslich auch überleben müssen, sollte alle oben erwähnten Faktoren im Lohn berücksichtigen. Dann müsste laut SPAZ ein Stundenlohn von ca. 35 Franken bezahlt werden. Im Schnitt sind in Zürich für illegal Arbeitende ohne Aufenthaltsbewilligung tatsächlich aber Löhne von rund 25 Franken pro Stunde die Norm. Wenn man bedenkt, dass da meist keine Sozialleistungen dabei sind und praktisch nie Unfall- und Krankenversicherungen, ist das sehr wenig. Doch es gibt immer wieder Papierlose, die für viel weniger arbeiten, da sie einfach jeden Job annehmen müssen, um über die Runden zu kommen. Was kaum jemand weiss: Auch für Illegale können Unfallversicherungen und AHV/ALV bezahlt und von diesen theoretisch auch bezogen werden. Das kommt aber höchst selten vor.
Plädieren möchte ich hier aber nicht für eine Anstellung von illegal Arbeitenden, sondern für eine andere Migrationspolitik. Wenn schweizweit mehr langjährige Sans-Papiers regularisiert würden, wie dies im Kanton Genf vor einigen Jahren geschah, wenn vor allem Migrantinnen und Migranten mit B-Bewilligungen keine Angst haben müssten, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, wenn sie Sozialhilfe benötigen, wäre schon viel erreicht.
Unser Land wäre ohne die zahlreichen Migrantinnen und Migranten, die es sauber halten, ein anderes. Sie verdienen unsere Wertschätzung und Löhne, von denen sie leben können. Alle, legal oder illegal Arbeitende. Sie sind genauso ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft, wie es meine Grossmutter vor hundert Jahren war.
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Lesen Sie demnächst in einem zweiten Teil die Geschichte der Bosnierin Nura B., die seit fast 20 Jahren in der Schweiz Büros, Schulhäuser, Treppenhäuser und Wohnungen putzt.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Hallo. Auch dieser Artikel ist notwendig. Und in Deutschland auch so. Der Mindestlohn, bringt aber nix. Erfahrungsgemäß wird beim Reinigungspersonal, Erntehelfern, oder Briefträger die Arbeit von 1 1/2 Stunden einfach in 1 Std gepackt, dann macht der Arbeitgeber sogar noch ein Plus damit. Eine Reinigungskraft die ich kenne, bekommt für «2» Hochhäuser mit jeweils 7 Stockwerken +Keller, Waschküche, Vorplatz «4»Std bezahlt. Wenn Sie länger braucht, ist das ihr Problem. Und es wird kontrolliert.
Schwarzarbeit. Bei einem Mindestlohn von 9 Euro bekommt derjenige 6 Euro, mit der Begründung : Du zahlst ja keine Versicherung und keine Steuer dafür.??
Besonders junge und unwissende Menschen, die wirklich Arbeiten und anständig Leben wollen, werden so betrogen und ausgebeutet. Kein Wunder, wenn es immer mehr «Arbeitsfaule» gibt.
Realer Kapitalismus eben – Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Dabei erfolgt die Ausbeutung nicht nur in dem durch Entfremdung gekennzeichneten Industriearbeitsprozess, sondern auch in zahllosen mittelständischen und Kleinunternehmen bzw. privaten Haushalten, wie im Beitrag beschrieben. Und diese «Arbeitgeber» sonnen sich z. T. in ihrem Gutmenschentum, doch etwas für die «armen Ausländer» zu tun, auch wenn sie nur sechs Euro pro Stunde bezahlen.