«No Fotos!»
Red. Walter Aeschimann ist freischaffender Historiker und Publizist. Im Oktober 2019 ist er mit dem Fahrrad und Interrail nach Spanien gereist und hat in Melilla die Grenze nach Marokko überquert. Er wird in den kommenden Wochen mit dem Fahrrad Marokko entdecken.
Die «Napoléon», in Malaga um 23.20 Uhr mit voller Kraft ausgelaufen, steuerte am frühen morgen den Hafen von Melilla an. Wer sich eine Schlafkabine nicht leisten konnte, brachte die Nacht auf Liegesesseln im Salon zu. Ich installierte mich auf dem Teppichboden neben einer marokkanischen Familie, deren kleiner Bub manchmal weinte. Gegen 5.30 Uhr weckte uns mit fester Stimme eine Frau des Bordpersonals, lockte mit frisch gebrühtem Kaffee und kündigte an, dass wir in 20 Minuten anlegen werden. Vom Deck aus sah man nun die hell beleuchtete Stadt, ein markantes Hochhaus und eine trutzige Burganlage. Ein Schwarm Möwen, die wohl auf ein paar Brosamen hofften, begleitete das wuchtige Schiff der Baleària Ferry Companie, als es präzise im Dock Nummer zwei einfuhr. Ein Schiff der Hafenpolizei war auch präsent.
Blick auf den Hafen von Melilla. (Quelle: Miguel/Wikimedia Commons)
Eine weitere halbe Stunde später bin ich von Bord und im Zentrum von Melilla – und vorerst erstaunt. Die Stadt, in der 85’000 Menschen leben, strahlt im Morgengrauen nicht viel Exotik und Leben aus. Keine Menschenseele ist zu sehen, kein Autoverkehr. Eine wilde Katze huscht über die Strasse, ein Reinigungswagen, auf dem «limpio Melilla» steht (ich reinige Melilla), wäscht das Trottoir sauber, von dem man kaum glauben kann, dass es einmal dreckig war. Ein Auto der Guardia Civil kurvt ums Eck. Die Stadt wirkt nicht nur leer und klinisch sauber, sondern auch unterkühlt und distanziert.
Melilla ist eine 13 Quadratkilometer grosse spanische Enklave auf nordafrikanischem Boden. Seit 1497 hält Spanien die Stadt am Mittelmeer, die auf dem Land von Marokko umschlossen ist.
Ich frage den Strassenkehrer, der in einer dunklen Seitenstrasse mit dem Besen wischt, nach dem Weg zur marokkanischen Grenze. «Mas abajo», antwortet er kurz und seine Augen verraten mir, dass er sich diese Grenze viel «weiter unten» wünscht, als die geschätzten fünf Kilometer. Etwas gesprächiger ist der Mann am Tresen des Café Contigo, das um halb acht geöffnet hat. Der café con lecce ist ausgezeichnet, ich bestelle einen zweiten und wage die Frage nach der Grenze noch einmal. Er erklärt, dass von Melilla vier Grenzen nach Marokko führen: Eine für schwere Lastkraftwagen, eine für einheimische Pendler und eine für Schüler, die ihre Lerninhalte im je anderen Land konsumieren. Der Grenzdurchgang von Beni-Enzar aber sei jener für die Touristen, sagt der Mann, und schaut mich vielsagend an. Als ob er sagen wollte, dass der Grenzübergang Beni-Enzar nur für Touristen sei und nicht für Menschen, die aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara in die Europäische Union (EU) wollen.
Der Trick mit dem «Handgepäck»
Die Szenerie vom leeren und sauberen Stadtzentrum verändert sich, je näher ich der Grenze komme. Der Verkehr wird dichter und chaotischer, viele Menschen sind nun auf der Strasse. Vor grossen Lagerhäusern, in denen sich Konserven und Gebäck, Decken und Matratzen, gebrauchte Bügeleisen und Computer sowie Jeans und getragene Schuhe stapeln, versammeln sich Frauen und Männer, um Ware in Empfang zu nehmen. Ich nehme den Fotoapparat zur Hand. Zwei Frauen kommen auf mich zu und sagen: «No Fotos!» Sie erzählen mir, dass sie für «poco dineros» Lasten schleppen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie tragen die Waren auf dem Rücken über die Grenze auf marokkanischen Boden. Sie laufen mehrmals täglich hin und her. Tag für Tag Tausende von Tonnen Ware. Manche Ballen sind bis zu 50 Kilo schwer. Was zu Fuss über die Grenze getragen werden kann, gilt als «Handgepäck» und ist «zollfrei», «legale Schmuggelware» sozusagen. Die Grenzbeamten drücken wohl beide Augen zu.
Mehrmals täglich schleppen Frauen schwere Warenpakete über die Grenze nach Marokko. Denn was zu Fuss über die Grenze transportiert wird, gilt als zollfreies Handgepäck. (Bild: Walter Aeschimann)
Stacheldraht, Wärmebildkameras, Bewegungsmelder
Wir stehen dicht am Zaun kurz vor dem Grenzübergang in Beni-Enzar. Ich dürfe auch keine Fotos von diesem Grenzzaun machen, warnen mich die Frauen. Die Polizei würde mich sonst büssen. Aber nun bin ich hier. Wie soll man da keine Fotos machen von diesem Zaun, der zum ikonografischen Symbol geworden ist für die Abschottungspolitik Europas gegenüber dem Rest der Welt. Auf dem Ostufer des Río de Oro, des Goldflusses, verläuft die Grenze. Das sind bis zu sieben Meter hohe Zäune, mit Stacheldraht, Wärmebildkameras, Bewegungsmeldern und ferngesteuerten Suchscheinwerfern. Es soll sich um die am besten gesicherte Aussengrenze des EU-Raumes handeln. Der Grenzzaun umschliesst Melilla. Er soll jene Menschen, die südlich der Sahara aufgebrochen sind, den Eintritt in die EU verwehren.
Der sieben Meter hohe Grenzzaun aus Klingendraht soll Flüchtlinge aus Afrika von EU-Boden fernhalten. (Bild: Walter Aeschimann)
Am Grenzdurchgang erhalte ich eine handschriftlich vermerkte Nummer in den Pass und einen Stempel. Dann fragt mich der Beamte, wohin ich wolle, sagt etwas auf Arabisch und hält die flache Hand ans Herz. Ich vermute, er wünschte mir viel Glück und ich bedanke mich. Mein Pass erlaubt mir, den Grenzübergang in beide Richtungen zu passieren.
Nador: Für viele Migranten Endstation
Ich bin in Marokko. Der marokkanische Grenzort ist keine Destination, an dem Touristen bleiben. Allenfalls halten sie noch kurz, um an Bankomaten Dirham zu beziehen, die Währung von Marokko. Fünfzehn Kilometer weiter ist Nador, eine Stadt mit 165’000 Einwohnern. Sie soll eine der am schnellsten wachsenden Städte Marokkos sein. Den Hauptteil der Einwohner bilden aus dem Rifgebirge zugewanderte Berber. Die Staatssprache von Marokko ist Arabisch, welche sich aber vom klassischen Arabisch unterscheidet. Die Berbersprache wiederum unterscheidet sich vom Arabischen. Französisch ist zweite Amts- und Verkehrssprache. Aber hier im Norden sprechen die Menschen, wenn überhaupt, als zweite Sprache eher ein gebrochenes Spanisch.
Auf den Hauptstrassen drängeln sich hupende Autos rücksichtslos voran, die Seitengassen sind belebt, unter den sonnengeschützten Arkaden der Gebäude aus kolonialer Zeit trinken Männer Minzentee. Es riecht nach Gewürzen, gegrillten Poulets und frittiertem Fisch. Die Strassen sind voller Stände mit Importwaren aus zweiter Hand. Im zentralen Markt wird die Billigware feilgeboten, die Frauen über die Grenze schleppten.
Nador ist auch Dreh- und Angelpunkt jener Menschen, die die Grenze nicht passieren können, aber nach Mellilla wollen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Das Stadtbild war jahrelang geprägt von Hunderten von Migranten, die auf eine günstige Gelegenheit warteten. Momentan sind kaum Menschen aus der Subsahra-Zone zu sehen. Diesen Eindruck bestätigt mir auf dem Markt auch die deutsche Frau, die seit drei Jahren in Nador lebt. Ebenso der flinke Coiffeur, der mir für weniger als drei Franken einen schönen Haarschnitt macht. Beide wissen aber, dass die Menschen nicht verschwunden sind. Sie harren in improvisierten Baracken aus Plastik, Ästen und Zweigen in den marokkanischen Wäldern oberhalb von Nador aus, im Gebirge von Gourougou, Ausläufern des Rifgebirges. Hunderte Menschen aus Ghana, Mali oder dem Senegal leben dort teilweise bis zu einem Jahr unter miserabelsten Bedingungen, um ihr Leben für den Grenzübertritt zu riskieren. Wie viele es momentan sind, weiss kaum jemand.
Markt in Nador. (Bild: Walter Aeschimann)
«Der marokkanische Staat führt seit einigen Monaten eine grossangelegte Kampagne gegen Migranten durch: Tausende wurden aufgrund ihrer Hautfarbe im Norden Marokkos verhaftet und ins Landesinnere gebracht», zitiert die «Neue Zürcher Zeitung» kürzlich Said Tbel von der marokkanischen NGO AMDH. «Die Polizei hat Lager eingerichtet, um Migranten von der Grenze fernzuhalten», sagt der Menschenrechtsaktivist. Sogar Abschiebungen in subsaharische Staaten hätten stattgefunden. Das habe es vorher in Marokko nicht gegeben. Die offiziellen Behörden dementieren die Aussagen des NGO-Aktivisten.
Verzweifelte Aktionen am Grenzzaun
Obwohl der Zaun unüberwindbar scheint, wagen es die Menschen immer wieder. Sie brechen in der Nacht auf, laufen zu Fuss durch den Wald, rund 10 Kilometer sind es bis zum Zaun. Mit Leinentüchern schützen sie sich vor dem Klingendraht. Die meisten schaffen es auch nach mehreren Versuchen nicht nach Melilla. Und dennoch riskieren sie ihr Leben stets aufs Neue. Die Bilder, wie Menschen auf den Zaun steigen und wie Polizisten sie daran hindern, gehen jeweils um die Welt. Die westlichen Medien rapportieren diese Ereignisse am Grenzzaun auch in Zahlen.
Im Juni 2008 gelangten in zwei Wellen Dutzende afrikanischer Flüchtlinge in die spanische Exklave Melilla. Dabei sollen auch mehrere Grenzpolizisten verletzt worden sein. Nur wenige Flüchtlinge erreichten die Stadt, 50 Personen wurden aufgegriffen und in Abschiebelager gebracht. Ähnliches wiederholte sich in den folgenden Jahren. Anfang 2014 schätzte man die Zahl der Flüchtlinge, die sich in der Nähe der Grenzanlagen aufhalten, auf 30’000 Personen. 2014 kam es nach spanischen Angaben zu 65 Stürmen auf die Grenzanlagen. Seither wurden es weniger, die Migrantenströme haben sich verlagert. Dennoch kommt es bis heute zu verzweifelten Aktionen. Am 12. Mai in diesen Sommer sollen nach spanischen Medienberichten 52 Menschen den Zaun überwunden haben. Schliesslich kletterten im Morgengrauen des Freitags, 19. Juli 2019, erneut 200 Menschen die Grenzbefestigungen hoch. Etwa 50 gelangten dabei auf EU-Gebiet.
Vom 1. Januar bis 15. Juli 2019 sind nach Angaben des spanischen Innenministeriums 2397 Asylsuchende über den Landweg nach Melilla gelangt. Im gleichen Zeitraum 2018 waren es noch 2554 Menschen. Seit Jahresbeginn 2019 kamen laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex 14’667 Personen auf illegalem Weg nach Spanien. 2018 waren es im gleichen Zeitraum 19’997. Im gesamten Jahr rund 57’000. Im Vergleich zum Vorjahr hat die Zahl der irregulären Einreisen auch auf dem Seeweg über die westliche Mittelmeerroute abgenommen. Nach der jüngsten Mitteilung der UN-Organisation für Migration (IOM) kamen dieses Jahr in Spanien bis zum 18. September knapp 17’000 Migranten an. Das sind nur halb so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres.
Von Nador gehts mit dem Velo weiter Richtung El Hoceima. (Bild: Walter Aeschimann)
Seit zwei Jahren unterwegs
Ich bleibe eine Nacht in Nador und breche zum Küstenort El Hoceima auf. Auf der Meeresstrasse treffe ich vereinzelt junge Menschen, die auf dem Pannenstreifen Richtung Nador laufen. Zwei junge Männer, die kaum mehr als ihre Kleider auf dem Körper tragen, führen ihre Hand zum Mund, als sie mich erblicken. Ich halte an und gebe ihnen meinen Wasservorrat und das Brötchen vom Frühstück, das ich im Hotel in Nador nicht verzehren mochte, aber als Nahrungs-Reserve auf die Tagesetappe mitgenommen habe. Sie erzählen in hastigen Worten, dass sie seit zwei Jahren unterwegs sind, in Senegal aufgebrochen, mit dem Ziel Melilla. Und danach?, frage ich. Sie wissen es nicht und schütteln nur den Kopf.
Dann schweigen sie, es gibt kein Gespräch. Die Begegnung ist kurz. Sie mögen ihre Geschichte keinem erzählen, der als Hilfe nur Wasser und etwas Brot zu bieten hat. Es sind wohl auch zu traumatische Erlebnisse. Ich frage nicht weiter und wir trennen uns. Die beiden jungen Männer laufen Richtung Nador, auf dem Asphalt, unter der glühenden Sonne, die hier auch Anfang Oktober noch sehr intensiv scheint. Am kleinen Stand am Strasssenrand, ein paar Kilometer später, kaufe ich eine neue Wasserflasche und ein Mars.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.