Migration in die westliche Welt: Das Sterben geht weiter
Die «Internationale Organisation für Migration» (IOM) veröffentlichte kürzlich einen Bericht, der die aktuelle Situation im Mittelmeer in Zahlen abbildet. Im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr erreichten weit weniger Migrantinnen und Migranten Europa über den Seeweg, trotzdem bleibt die Zahl der Todesopfer erschreckend hoch.
Fernsehen und Zeitungen informieren nur noch am Rande oder überhaupt nicht über diese Schicksale, was das Verdrängen erleichtert. Aus diesem Grund informiert Infosperber über die jüngste Schreckensbilanz der IOM.
Gemäss dem IOM-Bericht erreichten im laufenden Jahr 34’226 Migrantinnen und Migranten Europa über den Seeweg. Vergleicht man diese Zahl mit den Ankünften, die 2018 im gleichen Zeitraum gezählt wurden, ergibt sich ein Rückgang von rund 34 Prozent. Gemäss IOM erreichten damals 51’782 Migrantinnen und Migranten Europa über die Mittelmeer-Routen.
683 registrierte Tote in 199 Tagen
Trotz dem Rückgang von Überfahrten und Ankünften, bleibt die Zahl der Menschen, die im Mittelmeer auf den drei wichtigsten Mittelmeerrouten ertrinken, erschreckend hoch. In den ersten 199 Tagen des Jahres 2019 zählte IOM 683 Tote. Das sind durchschnittlich mehr als drei Menschen, die täglich im Mittelmeer ertranken.
Vergleicht man die Sterblichkeitsraten der Migrantinnen und Migranten, die im Zeitraum von Januar bis Juli 2018 die Überfahrt über das Mittelmeer wagten, mit denjenigen desselben Zeitraums im Jahr 2019, resultiert nur ein geringfügiger Unterschied.
Ein perfides Zahlenspiel, das beweist: Trotz weniger Überfahrten ertranken 2019 «nur» unwesentlich weniger Migrantinnen und Migranten. Dank der Abschottungspolitik Europas und all den Massnahmen, die Überfahrten über das Mittelmeer verhindern sollen, wagen zwar weniger Menschen die Überfahrt. Das Risiko, dabei zu sterben, ist jedoch viel höher. So löst Europa seine Probleme: ein Armutszeugnis sondergleichen.
Italien: zurück in die libysche Hölle
Die Situation in Italien, die in den vergangenen Tagen viel zu reden gab, fasst Flavio Di Giacomo von IOM Rom zusammen. Er beruft sich auf offizielle Zahlen des italienischen Innenministeriums. Demnach sind im Jahr 2019 insgesamt 3186 Migranten auf dem Seeweg nach Italien gekommen. Im gleichen Zeitraum sind 4023 Migranten oder Flüchtlinge nach Libyen zurückgebracht wurden.
Und das, obwohl Flüchtlinge in Libyen nachweislich ausgebeutet, missbraucht und angegriffen werden. Laut UNHCR werden allein in den Camps in und um Tripolis 3300 Flüchtlinge und Migranten unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten. UNHCR bezeichnet die Zustände in den libyschen Haftlagern als verheerend und ruft die Europäische Union dazu auf, einen Rücktransport von Migrantinnen und Migranten in diese Lager zu verhindern.
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind innerhalb Libyens fast 100’000 Menschen auf der Flucht vor Gewalt. Immer wieder geraten sie ins Kreuzfeuer der Kriegsparteien. Zuletzt im Juli, als bei einem Luftangriff auf ein Flüchtlingslager mindestens 40 Menschen starben und 80 verletzt wurden.
Die Situation in Spanien
Auf der Grundlage des jüngsten Berichts des spanischen Innenministeriums über irreguläre Einreisen nach Spanien haben die spanischen Behörden im Zeitraum vom 1. Januar bis 15. Juli 2019 insgesamt 11’703 Einreisen durch das westliche Mittelmeer und die Westafrikanische Route registriert. Nach Schätzungen von IOM, die auf öffentlich zugänglichen Informationen beruhen, kamen durch die Meeresankünfte an der Küste Andalusiens in den letzten zwei Tagen weitere 361 Personen hinzu.
IOM schreibt: «Während die monatlichen Ankünfte in Spanien in diesem Jahr insgesamt niedriger sind, sind die Todesfälle auf der Route durch das westliche Mittelmeer nach wie vor hoch – mit 204 Todesfällen in etwas mehr als sechs Monaten dieses Jahres, verglichen mit 296 im gleichen Zeitraum im Jahr 2018.»
Griechenland: 814 Migranten gerettet
Auf der östlichen Mittelmeerroute rettete die griechische Küstenwache Mitte Juli 814 Migrantinnen und Migranten aus Seenot. Diese Rettungsaktionen und andere Anlandungen in den vergangenen Wochen belaufen sich gemäss IOM auf insgesamt 16’292 Personen. Das sei ein Anstieg von über 1’500 irregulären Migranten in den letzten sieben Tagen (Stand: 19.7.2019).
Der 20. Oktober 2015 war nach Angaben der IOM der verkehrsreichste Tag seit Beginn der Aufzeichnung. An diesem Tag kamen 12’558 Migranten nach Griechenland, ein Teil des grössten Migrationsstroms seit Anfang 2015, der vom 17. Oktober bis 21. Oktober stattfand, als etwa 48’000 Flüchtlinge und Migranten in nur fünf Tagen aus der Türkei auf die griechischen Inseln kamen.
Todesfälle an US-Grenze steigen
IOM erwähnt in ihrem Bericht zudem speziell die Situation an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das Team des «Missing Migrants Project» habe alleine seit dem 11. Juli den Tod von fünf Personen registriert.
Am 11. Juli sei ein 33-jähriger guatemaltekischer Mann von einer Gruppe von Migranten, die mit ihm im texanischen South Bexar reisten, als vermisst gemeldet worden. Nach den Aussagen der Migranten habe er sich krank gefühlt und habe deshalb seine Reise nicht fortsetzen können. Wie IOM schreibt, habe das Sheriff’s Office eine Suchaktion gestartet. Allerdings seien seine Überreste bis am 18. Juli nicht gefunden worden. Beim Río Bravo sind zudem die Leichen von vier ertrunkenen Personen gemeldet worden: US-Grenzschutzbeamte bargen die Überreste von zwei Männern. Am Südufer des Flusses lokalisierten mexikanische Katastrophenschutzbehörden zudem die Überreste von zwei jungen mexikanischen Männern.
Gemäss den Daten von IOM, haben im laufenden Jahr 2019 mindestens 455 Menschen in Amerika ihr Leben verloren. Vor einem Jahr starben im selben Zeitraum noch 287 Menschen.
Weltweite Todesfälle auf Migrationsrouten
Seit Anfang 2014 bemüht sich das IOM mit dem «Missing Migrants Project» systematisch Todesfälle auf den Migrationsrouten auf der ganzen Welt zu sammeln. Seit Anfang 2014 habe man dabei die Todesfälle von 32’362 Menschen erfasst, schreibt IOM. Davon 1405 im laufenden Jahr 2019. Allerdings sind diese Zahlen mit Vorsicht zu betrachten, die Dunkelziffer ist hoch. Das sagt auch IOM: «(…) obwohl aufgrund der Herausforderungen, Informationen über diese Menschen und die Zusammenhänge ihres Todes zu sammeln, die tatsächliche Zahl der Menschen, die während der Migration zu Tode gekommen sind, viel höher ist.»
Deshalb sollten die Aufzeichnungen des «Missing Migrants Project» nur als «Hinweis auf die mit der Migration verbundenen Risiken angesehen werden und nicht als repräsentativ für die tatsächliche Zahl der Todesfälle im Laufe der Zeit oder in einer einzelnen Region.»
******************************************************************
Infosperber-DOSSIERS:
******************************************************************
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Ja es ist tragisch, schlimm, unmenschlich was da passiert. Sind wir uns, hier in den sog."entwickelten» Ländern bewusst, dass unser «Entwicklungsmodel» daran mitschuldig ist ? Wir haben eine Zivilisation entwickelt, in welcher – um es grob zu sagen – der Wert eines Menschen immer zwingender an seinem «Lifestyle» (mit/ohne Wagen, Marke des Wagens, usw usw ) gemessen wird. Wundern wir uns dann, dass Hunderte von Tausenden die jetzt in den Ruinen von Zivilisationen leben, die durch Unsere zerstört wurden, wenigstens durch einen guten Westlichen Lifestyle ihr dadurch auch zerstörtes Selbstwertgefühl wieder steigern wollen ? Ich rede da nicht von den Menschen, die in nackter Armut oder Kriegs – und Hungersnot ihre Länder verlassen wollen. Diese sollten absolute Priorität haben auf allen institutionellen Ebenen VOR den Lifestyle-Verbesserer. Wenn wir uns aber diesen gegenüber etwas weniger aufnahmebereit zeigen, darf das nicht passieren ohne wie gesagt unsere Bewusstheit, dass unsere verrücktes , nur auf Konsum ausgerichtetes Werte – System, auch an dieser tragischen Situation beteiligt ist.
Keine Frage: An den Grenzen der reichen Länder herrschen erschreckende Zustände.
Ich vermisse in diesem Artikel allerdings Ideen, was dagegen unternommen werden könnte. Eine teilweise Grenzöffnung, wie sie 2015 kurzzeitig praktiziert wurde, hat das Schlepperwesen mit all seinen Nebenwirkungen nicht vermindert. Auch war sie politisch nicht längerfristig durchzuhalten.
Natürlich sollten die reichen Länder viel grössere Anstrengungen unternehmen, um in den Ursprungsländern der Migration eine Entwicklung in Gang zu setzen, welche den Exodus unnötig machte. Aber es würde selbst bei ernsthaftem und entschlossenem Handeln eher Jahrzehnte als Jahre dauern, bis solche Bemühungen Früchte tragen würden.