Menschen aus dem Tibet in Schweizer Nothilfe
(Red.) «Kein Mensch ist illegal», «Ausschaffungen sind keine Lösung» – das sind Grundsätze des Vereins «Solidaritätsnetz Region Basel», der Personen ohne gesicherten Aufenthalt in Notlagen unterstützt. Er leistet finanzielle Hilfe, übernimmt Anwaltskosten in Strafverfahren wegen illegalen Aufenthalts, nimmt zeitweilig Nothilfeempfangende auf, bietet Vertrauenspersonen an. Und nicht zuletzt setzt sich der Verein für eine offenere Härtefallpolitik ein. Das von Guy Krneta geführte Interview mit Tashi Tsering über Menschen aus dem Tibet und der Text von Anni Lanz über die strenge Asylpolitik sind dem «Solinetz»-Jahresbericht 2020 entnommen.
Die Aufnahme von Tibeterinnen und Tibetern galt in der Schweiz als Erfolgsgeschichte. Vertriebene Menschen aus dem Tibet genossen Sympathien in der Schweizer Bevölkerung. Doch mit den neuen Wirtschaftsbeziehungen zu China änderte sich das Verhältnis zu den Verfolgten. Wurden die ersten Ankommenden noch öffentlich willkommen geheissen, befinden sich heute rund 300 Tibeterinnen und Tibeter in Nothilfe. 2/3 der Gesuche werden gemäss SEM (Staatssekretariat für Migration) anerkannt, für rund 1/3 jedoch ist die Lage in der Schweiz aussichtslos. Nach mehr als fünf Jahren Aufenthalt können sie ein Härtefallgesuche stellen, wenn sie ihre Identität nachweisen können. Sie fürchten aber, einer Ausweisung damit in die Hände zu spielen. Eine problematische Rolle spielen gemäss einem Artikel der «NZZ am Sonntag» von Oktober 2020 auch die Übersetzungsgutachten der Bundes-Fachstelle Lingua. Mindestens einem Experten wird allzu grosse Nähe zu China vorgeworfen. Das SEM stellt sich auf den Standpunkt, «korrekt» zu handeln. Es verteidigt die Gutachten der Bundes-Fachstelle Lingua. Dass der veränderte Umgang mit Tibeterinnen und Tibetern in der Schweiz mit dem Freihandelsabkommen mit China zusammenhänge, bestreitet das SEM. Immerhin stellt es in Aussicht, die Härtefallgesuche wohlwollend zu prüfen, wenn die Abgewiesenen bereit sind, ihre Identität offenzulegen. Diese wiederum sind nur bereit es zu tun – falls sie es überhaupt können –, wenn ihnen vorgängig versichert wird nicht ausgeschafft zu werden.
Tashi Tsering kam als siebenjähriges Kind nach Basel und wuchs hier in einer Gastfamilie auf. Seine leiblichen Eltern besuchte er zum ersten Mal als Achtzehnjähriger in Indien. Eine Weile wirkte Tsering auch als Übersetzer fürs SEM. Der kürzlich pensionierte Sozialarbeiter betreut heute in Basel tibetische Menschen in Notlage. – Guy Krneta hat ihn zum Gespräch getroffen.
Guy Krneta: Herr Tsering, Sie kamen 1964 als siebenjähriges Kind in die Schweiz. Können Sie sich an die Ankunft erinnern?
Tashi Tsering: Ja, ich kam im Rahmen der «Aktion Aeschimann» 1964 in die Schweiz, zusammen mit rund 15 anderen Kindern. Ich wurde einer Familie in Basel zugeteilt. Charles Aeschimann, ein Industrieller aus Olten, hatte ein Kind aus dem Tibet adoptiert. Das wurde bekannt, es gab grosse Medienberichte. Daraufhin meldeten sich über hundert Schweizer Eltern aus dem gehobenen Mittelstand, die ebenfalls ein Kind wollten.
GK: Die Aktion wird heute zwiespältig beurteilt. Eltern wussten nicht, was mit ihren Kindern geschieht, meinten gar, sie seien ins Ausland verkauft worden.
TT: Wir flohen mit unseren Eltern 1959/60 nach Indien. Unsere Eltern waren im Strassenbau tätig, hatten zu wenig, um zu existieren. Wir Kinder kamen in Kinderheime. Doch die Kinderheime in Dharamsala / Nordindien, am Sitz des Dalai Lama, waren überlaufen. Täglich wurden neue Kinder gebracht. Man versuchte Gruppen von Kindern ins Ausland zu schicken.
GK: Gegen den Willen der Eltern?
TT: Eigentlich war es das Prinzip von Charles Aeschimann, man muss die Unterschrift der Eltern haben, um ein Kind in die Schweiz schicken zu können. Zum Teil konnte das aber nicht eingehalten werden. Meine Eltern wussten wenig. Man sagte ihnen: Euer Kind kommt in ein schönes Land, es muss nicht hungern. Sie dachten: In einem Jahr sehen wir uns sicher wieder.
GK: Was wussten Sie als Kind über die Schweiz?
TT: Wir sahen im Kinderheim einen Film, da sah man Apfelbäume in Baselland, es war das Paradies. Als wir in Kloten ankamen, es war März, herrschten winterliche Temperaturen. Wir, in Schlotterhosen, wurden in einen Wartsaal gebracht. Da haben uns die Pflegeeltern abgeholt. Sie hatten Fotos dabei, welche jene Kinder zeigten, die für sie bestimmt waren. Uns wurde gesagt, wir würden als Gruppe zusammenbleiben. Doch ein Kind ums andere wurde abgeholt. Das war für viele Kinder traumatisch.
GK: Wie viele Tibeterinnen und Tibeter leben heute in der Schweiz?
TT: Zu Anfang waren es 1’000 Menschen, heute sind es rund 8’000, genaue Zahlen gibt es nicht.
GK: Ich dachte, es seien mehr. – Und wie viele Tibeterinnen und Tibeter leben ausserhalb Tibets?
TT: Vielleicht 120’000. Eigentlich wenig, gegenüber den 7 oder 8 Millionen in Tibet / China. Mit den späteren Geburten in Indien und Nepal könnten es auch 150’000 sein. Davon ist ungefähr die Hälfte weitergeflüchtet, aus Indien, Nepal, Bhutan weg nach Amerika, Kanada, Australien, Europa. 50% aller Tibeterinnen und Tibeter, die ausserhalb Tibets leben, wohnen im Westen.
GK: Es gab mehrere Fluchtbewegungen.
TT: Die grosse Fluchtbewegung war Anfang der Sechzigerjahre, nach dem Volksaufstand von 1959. Daraufhin floh der Dalai Lama, mit ihm zusammen gegen 80’000 Menschen. Einen weiteren grossen Volksaufstand gab es in den Neunzigerjahren, ausgehend von Zentraltibet. Da haben wiederum viele Menschen das Land verlassen. Es gab auch Eltern, die fürchteten, ihre Kinder würden ausschliesslich chinesisch erzogen. Sie haben versucht, ihre Kinder in tibetischen Schulen ausserhalb Tibets / Chinas unterzubringen.
GK: Was ist mit ihnen geschehen?
TT: Von den Kindern, die in Indien aufgewachsen sind, in tibetische Schulen gingen, sind etliche als Erwachsene weitergeflüchtet. Sie hatten keinerlei Unterstützung, weiterführende Schulen in Indien sind kostenpflichtig. Es gab dann noch mal einen grossen Volksaufstand 2008 in Nordosttibet. Daraufhin flohen wiederum viele junge Menschen nach Indien. Und von da weiter in den Westen.
GK: Da war die Schweiz für Tibeterinnen und Tibeter noch offen?
TT: Weitgehend. Die Verschärfungen kamen 2014. Nun mussten Asylsuchende auf einmal beweisen, dass sie aus dem Tibet kommen. Zuvor war es so, dass das SEM Geflüchteten nachweisen musste, nicht aus dem Tibet zu kommen. Es fand eine Beweislastumkehr statt.
GK: Das hing mit dem Abschluss des Freihandelsabkommens mit China zusammen?
TT: Das SEM bestreitet den Zusammenhang. Aber wirtschaftliche Beziehungen zu China spielen sicher eine Rolle. Die Änderung zeigte sich in der Praxis des SEM. Es gab auf einmal viele Ablehnungen.
GK: Und die Menschen blieben?
TT: Ja, ausgeschafft nach Tibet/China können sie nicht, ebenfalls nicht – aus technischen Gründen – nach Indien und Nepal. So leben heute 300 Menschen in Nothilfe.
GK: Warum wurden sie von der Schweiz nicht anerkannt?
TT: Die Schweiz sagt, in Indien und Nepal ist man sicher. Menschen, die in Indien und Nepal geboren sind und dort ein Leben geführt haben, werden als Asylsuchende nicht anerkannt, obwohl sie staatenlos sind.
GK: Wie viele Abgewiesene in Nothilfe leben in Basel?
TT: in Basel-Stadt ist es eine einzige Person. In Baselland sind es rund 20 Personen, mit Kindern. Alle sind sechs bis zehn Jahre hier. Von den Voraussetzungen her wäre ein Härtefallgesuch respektive eine -bewilligung möglich. Lediglich die Identität ist nicht klar. Im Kanton Jura sind es vier Erwachsene und zwei Kinder.
GK: Wurden Härtefallgesuche gestellt?
TT: Zum Teil schon. Im Prinzip ist alles Notwendige vorhanden, wir scheitern an der Offenlegung der Identität. Die Person in Basel-Stadt sagt, sie komme direkt aus dem Tibet. Wir warten noch drei Pilotfälle in St. Gallen ab.
GK: Welche Pilotfälle?
TT: Es gibt drei Fälle in St. Gallen, drei Tibeter, die ihre Identität – dass sie aus Indien kommen – preisgegeben haben. Der Regierungsrat hat ihnen zugesichert, sie würden nicht ausgewiesen. Wenn die drei vom SEM mit den entsprechenden Papieren akzeptiert werden und eine B-Bewilligung erhalten, dann werden wir in der Nordwestschweiz das auch versuchen, in der Hoffnung, dass der gleiche Vorgang hier ebenfalls akzeptiert wird. Im Prinzip hat das SEM es versprochen.
Was abgewiesene Asylsuchende heute aushalten müssen
Anni Lanz – Bin ich mit dem Alter dünnhäutiger geworden? Oder hat die Schweizer Migrationspolitik einen Zacken an Brutalität zugelegt? Was abgewiesene Asylsuchende heute aushalten müssen, raubt mir zuweilen den Schlaf.
Da lebt eine Frau aus Tibet mit ihrem anderthalbjährigen Kind in Valzeina, fernab von einer öffentlich zugänglichen Infrastruktur. Sie ist schon seit zehn Jahren in der Schweiz, während dem Asylverfahren war sie sechs Jahre lang erwerbstätig. Das Migrationsamt Graubünden wollte Ihr eine Härtefallbewilligung geben, doch das SEM lehnte ab.
Ein anderer Tibeter aus dem Kanton Graubünden darf nicht in den Kanton seiner Kinder und Ehepartnerin wechseln, weil sein Asylgesuch vor sechs Jahren abgelehnt wurde und er illegalen Aufenthalts sei. So eine Person könne keinerlei Rechte beanspruchen, meint auch das Bundesverwaltungsgericht.
Der hoffnungsvolle äthiopische Jüngling hat gleich nach seiner mit Glanz bestandenen Lehre einen ablehnenden Asylentscheid erhalten. Die Sachbearbeiterin sagt, er solle sich den Pass auf seiner Botschaft beschaffen, dann werde man sein Härtefallgesuch entgegennehmen. Ob er damit seine Ausschaffung vorantreibt? Früher haben die Behörden dieses Dokument erst verlangt, nachdem ein positiver Entscheid für eine Härtefallbewilligung gefallen war. Wer keine Zusicherung auf ein Bleiberecht erhält, geht das Risiko einer Passübergabe an die Behörden kaum ein: Er könnte ausgeschafft sein, bevor die Behörde einen Gesuchsentscheid fällt.
Die Härtefallpraxis ist für die abgewiesenen Asylsuchenden massiv verschärft worden. Nicht nur das SEM hat neue Hürden errichtet, auch auf den Merkblättern mancher Kantone wird, wie im Kanton Solothurn, «ein gültiger Reisepass (Original)» gefordert, damit überhaupt eine Härtefallbewilligung beantragt werden kann. Weiterhin wird auf dem Merkblatt, neben einem reinen Strafregisterauszug ein «Arbeitszeugnis des aktuellen Arbeitgebers», sowie «sämtliche Lohnabrechnungen der letzten 12 Monate» verlangt – notabene für Personen, die seit ihrer Wegweisung einem Arbeitsverbot unterstellt sind. Gemäss den gesetzlichen Bestimmungen dürfen abgewiesene Asylsuchende nicht arbeiten, sind illegal hier, können wegen illegalem Aufenthalt schwere Strafen kassieren, und dürfen bloss von einer minimalen Nothilfe (pro Tag rund 8 Franken in Basel-Land und 12 Franken in Basel-Stadt) leben. Und dieser Zustand kann über viele Jahre dauern.
So viel Absurdität und Entwürdigung manifestiert eine tiefe Abscheu einer Mehrheit der Gesetzgebenden und Behörden vor Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen einem Ausreisebefehl keine Folge leisten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Die Texte sind dem Jahresbericht von Solinetz-Basel übernommen
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Kennen der Autor und Solinetz Albert Ettingers Buch «Kampf um Tibet»? Ettinger hat sich bemüht, die Geschichte Tibets mittels neutralen, ja chinakritischen Quellen darzustellen. Ich rate jedem, sein Buch zu lesen, um zu erkennen, wie manipuliert wird, wie Tibet und der Dalai Lama von den USA instrumentalisiert wurden/werden, um China zu diskreditieren. Dasselbe passiert offenbar nun mit den Uiguren.
Die einzelne Situation ist bei jedem Flüchtling wohl dramatisch aber ist jetzt ein tibetanischer Flüchtling zu unterscheiden von einem Nicaraguanischen ? Weshalb ?
Und wann zieht man eine Grenze ? Es gibt wohl mehr Länder in der Welt welche Gründe geben Asyl zu geben als Länder welche keinen Grund geben würden. Und wieviele kann man aufnehmen ?
Entweder «Alle» oder «Keine». «Alle» geht wohl nicht.
Ich habe im Gymnasium eine Tibeterin und einen Tibeter unterrichtet. Sie haben mit ihrem empathischen Verhalten viel zum guten Team Work in derselben Klasse beigetragen. Die beiden bleiben mir in sehr guter Erinnerung. Menschenrechte sind wichtiger als Wirtschaftsbeziehungen mit Diktaturen! Tibeter brauchen unsere Unterstützung.
Seltsam, was da abläuft. Ist das wohl Cassus zweiter Streich? Nachdem es ihm mit seinen Freunden Netanayu und Trumpeltier zwar gelungen ist, den bestens ausgewiesenen (im Gegensatz zu diesem Tessiner Neoiliberalen) Herr Krähenbühl mit von den Amerikaner übernommen falschen Anschuldigungen und Verdächtigungen zur Aufgabe seiner erfolgreichen Tätigkeit als Leiter des Hilfswerkes für die Palästinenser zu «zwingen»; zum Glück ist die UNO nicht auf die von Cassis gewünschte Einstellung der Hilfe für diese unterdrückten Menschen im Untertanengebiet der Israelis eingetreten. Will er wohl noch ein «erfolgreicheres» Exempel statuieren und zwar an den «angeblichen» Tibetflüchtlingen?! Pfui Teufel!