Kommentar
kontertext: Exil oder nicht Exil, «Europa» oder «Russland»?
Als ich am frühen Morgen des 24. Februar aufwachte und erfuhr, dass die so genannte «Sonderoperation» in der Ukraine begonnen hatte, war mir sofort klar, dass sich mein Leben für immer verändern würde. Allerdings konnte ich mir damals nicht einmal ansatzweise vorstellen, dass ich mein Land etwas mehr als 3 Monate später verlassen musste. Schliesslich hatte ich jahrelang gegen die Idee der Migration angekämpft – als ich Mitte der neunziger Jahre in den USA studierte, als ich Anfang der 2000er Jahre nach Europa reiste, als ich in den 2010er Jahren Workshops und internationale Residenzen organisierte, und sogar das allerletzte Mal, als ich im März 2021 einen Monat in Dänemark verbrachte, um über die Performanceform des «Neuen Zirkus» zu recherchieren und eben auch, um meinen dänischen Freunden zu beweisen, dass ich nicht bereit war fürs Exil.
Freiwilliges Exil?
Heute habe ich den Eindruck, dass eigentlich niemand auf der Welt wirklich bereit dafür ist. Auch wenn das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen die Zahl der weltweit Vertriebenen auf 103 Millionen Menschen schätzt, bin ich mir absolut sicher, dass die meisten Menschen, die hinter dieser gigantischen Zahl stehen, sich verloren und unglücklich fühlen.
Obwohl ich früher mit Flüchtlingen gearbeitet und «Applied Theatre» mit allen möglichen unterdrückten Minderheiten praktiziert habe, darunter Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, inhaftierten Frauen und «schwierigen» Teenagern aller Nationalitäten, fand ich selbst mich völlig unvorbereitet auf die Situation einer Migrantin. Obwohl meine Mutter seit meinem Erwachsenwerden immer wieder sagte, ich solle «gehen», und meine Freunde mich immer fragten, warum ich nicht «in Europa» sei. Meine Antwort an sie alle war, dass ich das Regime ablehne oder sogar verabscheue, aber: Ich liebe mein Heimatland. Nicht zuletzt bin ich der russischen Sprache verfallen: Als Jüdin bin ich mit der russischen Sprache aufgewachsen, sie ist der Kern meiner Arbeit und meines Universums, und ich schämte mich nicht dafür.
Tatsächlich aber wird die Frage der Scham heutzutage sehr oft gestellt und diskutiert. Sollten wir, die russischen Bürger:innen, die wir unsere Heimat verlassen haben, uns schuldig fühlen? Haben wir protestiert? Haben wir es nicht geahnt, dass der Krieg beginnen würde? Waren wir blind? Oder waren wir einfach zu sehr mit unserer Karriere und unserem Privatleben beschäftigt? Oder hatten wir vielleicht Angst? All diese komplexen Fragen höre ich hier in Europa von Zeit zu Zeit. Ausserdem frage ich mich immer wieder, warum ich das Offensichtliche nicht bemerkt habe und in meine humanitäre Arbeit geflüchtet bin, obwohl ich doch Putin nie getraut habe und seit dem Jahr 2000 nicht mehr zu den Wahlen gegangen bin. Ich habe keine Antwort auf diese Fragen, aber ich vermute, dass ich irgendwo tief in meinem Inneren an Dostojewskis Idee glaubte, dass die Kultur (oder die Schönheit) «die Welt rettet», was mir heute viel zu idealistisch erscheint. Sehr viele Menschen meiner Generation, die ich als «Kinder der Perestroika» bezeichne – weil die meisten von uns in den frühen achtziger Jahren geboren wurden -, versuchten auszuweichen, bauten sich ihre eigene, fortschrittliche, europäisch geprägte Blase und achteten nicht mehr genügend darauf, was im Land geschah. Genau wie ich haben sich die meisten von uns nicht mehr an der Politik beteiligt und sind nicht einmal wählen gegangen. Manchmal nahmen wir an Protesten, Streikposten oder Kundgebungen teil, einige von uns wurden zu Geldstrafen verurteilt oder verhaftet, aber es stellte sich heraus, dass all diese Opfer zu spät und umsonst gebracht wurden.
Angst, Zensur und Kriegsdienstverweigerung
So scheint es jedenfalls aus der neuen Perspektive, die ich jetzt habe. Es ist die Perspektive eines Menschen, der alles – Haus, Freunde, Verwandte, Arbeitsprojekte – in Russland zurückgelassen hat und ins Ausland gezogen ist. Umgezogen, weil es unmöglich war, zu bleiben.
Wenn alte und neue Bekannte fragen, warum ich fliehen musste, kann ich nicht nur eine Erklärung geben. Ich habe es sowohl aus Angst als auch wegen der Zensur getan. Zum Beispiel durfte ich im Fernsehen, wo ich das Theater beobachtete, nicht sagen, dass die Holocaust- und Antikriegs-Performance, die ich zu besprechen hatte, eine Theateradaptation des ungarischen Films «Das fünfte Siegel», am selben Tag uraufgeführt wurde, an dem der Krieg in der Ukraine begann.
Insgesamt aber bevorzuge ich den Begriff «Kriegsdienstverweigerung», der meine Unfähigkeit, im heutigen Russland zu leben, vollständig beschreibt. Was nicht automatisch bedeutet, dass jeder, der dort lebt, für Putin stimmt, das Regime unterstützt usw. Manche Menschen sind einfach nicht in der Lage, ins Exil zu gehen oder weiter zu kämpfen, wie der Politiker Ilja Jaschin, der kürzlich zu 8,5 Jahren Haft verurteilt wurde, oder die Künstlerin und Aktivistin Alexandra Skochilenko, die von der BBC zu den 100 inspirierendsten und einflussreichsten Frauen des Jahres 2022 gekürt wurde. Sie sitzt bis zum 10. April 2023 in Untersuchungshaft.
Aber, wie eine andere Oppositionskünstlerin, die Rocksängerin Zemfira Ramazanova, die jetzt in Frankreich lebt, vor vielen Jahren sang: «Helden hab ich keine getroffen.» Ich glaube aufrichtig, dass nicht jeder in der Lage ist, zu protestieren oder auch zu fliehen. Ich habe unterdessen erfahren, dass das Exil mit all seiner Ungewissheit, Instabilität, seinem Stress, seinen Anpassungsschwierigkeiten, seiner Umzugsmüdigkeit und seiner Perspektivlosigkeit selbst für Menschen mit vielfältigen persönlichen und beruflichen Beziehungen, guten Kommunikationsmöglichkeiten und Fremdsprachenkenntnissen sehr schwierig ist. Ich verstehe, dass das Exil für diejenigen ist, denen die Freiheit der Rede und des Handelns wichtiger ist als die Annehmlichkeit des Alltags, und die bereit sind, für den Rest ihres Lebens auf Reisen unterwegs zu sein. An den dunkelsten Tagen dieser ungeplanten Reise frage ich mich, ob ich bereit bin, so viel dafür zu bezahlen, dass ich mich selbst sein und offen über die Themen sprechen darf, die mich beschäftigen. Normalerweise lautet die Antwort «ja», Selbstentfaltung ist für mich wichtiger als die Verfügung über eine Kreditkarte oder eine Sozialversicherung, aber manchmal habe ich diese «Sanktionen» einfach satt, deren Opfer nicht die Länder, Regierungen oder Politiker sind, sondern ganz normale Menschen.
Niemand weiss, wie viele es sind – die Statistik spricht von der «schnellsten und grössten Vertreibung von Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg» und erwähnt mindestens 5,4 Millionen Ukrainer:innen, die ihr Land verlassen mussten – vor allem in nahe gelegene europäische Länder, darunter Deutschland, wo die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine die der Syrer übertraf -, aber die Migranten aus Russland bleiben ungezählt: Die meisten von ihnen sind offiziell gar nicht ausgereist und haben ihr Exil gar nie wirklich zugegeben. Wie auch immer, heute gibt es sehr viele von ihnen sowohl in den postsowjetischen Ländern als auch in Europa, und es scheint entscheidend, sie nicht zu «beschämen» oder ihnen Schuldgefühle zu machen, sondern ihre Motive und Gründe zu verstehen. Solidarität, Verständnis und Empathie scheinen mir die einzigen Möglichkeiten zu sein, um die weltweiten Konflikte zu entschärfen und die Gesamtzahl der Menschen jeglicher Herkunft und Nation zu verringern, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, egal ob sie aus Syrien, Venezuela, Albanien, Irak, Burkina Faso, Afghanistan, Äthiopien, Iran, Südsudan, der Ukraine oder Russland stammen. Denn für mich ist das Wichtigste am Exil, dass es nicht sein soll.
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Übersetzung aus dem Englischen von Felix Schneider.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Nika Parkhomovskaia ist eine russische Wissenschaftlerin, Kritikerin, Kuratorin und Theaterexpertin. Sie lebt nun in Frankreich und in der Schweiz.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Das «Kinder der Perestroika» der Autorin finde ich eine wunderbare Umschreibung für alles was 1990 noch an Hoffnung, an blanker Freude, an Kreativität, an Aufbruchsstimmung da war. Von dem heute nichts mehr da ist. Gar nichts. Ein winziges bißchen ist es uns Ossis auch so gegangen, und – so weiß ich aus Gesprächen – auch Polen, Tschechen, Bulgaren. Als Kind hat einen das sehr stark geprägt. Der Zuchtmeister Putin ist leider eine Folge auf das Chaos der Jelzin-Jahre, auf die Enttäuschung vieler mit einer vermeintlich besseren Demokratie, einer vermeintlich besseren Marktwirtschaft, die vielen nicht einmal die Rente garantieren konnte. Zwischen den Stühlen bleiben viele wie Fr. Parchomowskaja – freie Geister, die nichts mit überbordendem Nationalismus und Despotie anfangen können, auch wenn diese temporär stabilisiert, und trotzdem ihrer Sprache, Kultur, dem Land tief verbunden sind. Vielleicht muß man gerade jetzt die Kultur mehr denn je hochhalten.
Ein sehr guter Input den ich sehr gut nachvollziehen kann.
Es ist tatsächlich äusserst anspruchsvoll, sich diesem Thema zu nähern. Dieser Beitrag hat das DILEMMA äusserst gut beschrieben. Ich wünsche der Autorin vermehrt gute Momente hier im «Westen».
Der Westen der ja auch nicht einheitlich denkt und fühlt. Jeder Mensch hat seine eigene Biografie.
Den Sinn solcher Artikel verstehe ich nicht; oder doch (in anderem Sinn), aber lassen wir das. Die Autorin ist offenbar seit rund dreissig Jahren im Westen unterwegs, sagt aber, sie sei gegen Migration? Sie «liebe Russland», sei aber «seit Putin» nicht mehr wählen gegangen? Vorher schon (als Jelzin Präsident war, der mit Clinton tanzend fotografiert wurde, zusammen mit Hilfe von Chodorkowski auf ausgeklügelte Art den Heimatausverkauf vorantrieb, und der 1993 das eigene Parlamentsgebäude mit Panzern beschiessen liess)?
blog.tagi: «Bei den Präsidentenwahlen 1996 droht dem amtierenden Kreml-Chef Boris Jelzin die Abwahl, die Kommunisten sind im Parlament bereits wieder stärkste Kraft. In dieser Lage landen unter anderem drei erfahrene Wahlkampfmanager aus dem Umfeld von US-Präsident Bill Clinton in Moskau: Sie drehen Jelzins Wiederwahl-Bemühungen in eine Medienwalze amerikanischen Stils. Parallel unterstützte der IWF die Regierung drei Monate vor Urnengang mit 10-Milliarden-Dollar.»
Dieser Beitrag hat mich hier wirklich positiv überrascht, aber mir war klar, das es nicht lange dauert, bevor wieder die hier üblichen Narrative herangezogen werden.
Daher bediene ich sie lieber schnell selber, auch um den Beitrag vor weiterer Verunglimpung zu schonen.
Ja, ja ist so: Der Amerikaner, die Nato, die EU, der Westen ist Schuld, an allem!
Ich hoffe, das nun wieder Raum für eine differenzierte Diskussion bleibt.