Kommentar

kontertext: Beschleunigung bis zum Schwindel

Anni Lanz © zvg

Anni Lanz /  Vom Turboverfahren bis zum Numerus clausus, von Jans bis SVP - und was in der Praxis beim Asylpoker rauskommt: Willkür.

Ich begleite fünf minderjährige Cousins seit ihrer Flucht aus dem gleichen Ort im gebirgigen Afghanistan. Sie gehören alle zur derselben widerständigen Grossfamilie und sind nur zum Teil gleichzeitig in der Schweiz angekommen. Sie entkamen aber alle aus derselben Bedrohungssituation, das heisst ihre wohlhabenden Eltern schickten sie deswegen auf die Flucht. Der älteste der fünf Cousins bekam als einziger den Flüchtlingsstatus. Drei kamen ins normale Asylverfahren und erhielten die vorläufige Aufnahme, erhoben aber Beschwerde. Die Antwort wird erfahrungsgemäss sehr lange auf sich warten lassen. Der Letzte und Fünfte mit den schlimmsten Folterspuren geriet ins beschleunigte Asylverfahren mit einer knappen Befragung zu den Fluchtmotiven. Drei Tage nach der Asyl-Befragung wurde bereits seine Flüchtlingseigenschaft verneint. Die Spuren seiner Verletzungen müssten nicht weiter beachtet werden, er sei lediglich «zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen», behauptet das SEM, «die Furcht vor weiteren Übergriffen sei bloss subjektiv». Für die Beschwerde verblieben sieben Arbeitstage. Fazit: Fünf identische Fluchtmotive, drei verschiedene Verfahrensergebnisse. Das Asylverfahren ein Glücksspiel? Oder von politischen Überlegungen geleitet?

Die Flüchtlingszahl deckeln?

Die SVP hat Anfang Februar eine Initiative angekündigt. Ein neues Gesetz soll die Anzahl der Flüchtlingsanerkennungen pro Jahr auf 5000 deckeln. Gemäss SEM-Statistik vom 31. Dezember 2023  wurde das vergangene Jahr hindurch 5991 mal Asyl gewährt. 60‘479 Anerkannte lebten mit Flüchtlingsstatus in der Schweiz. Gegenwärtig nimmt die Zahl der Asylgesuche zu.

Auch im beschleunigten Asylverfahren sollten Asylsuchende ihre Fluchtgründe detailliert schildern und den Behörden Beweismittel übergeben können. Es müssten alle möglichen relevanten Aspekte untersucht werden, schreibt die Schweizerische Flüchtlingshilfe auf ihrer Webseite. Beschleunigte Asylverfahren erweisen sich jedoch – wie am oben erwähnten Beispiel gezeigt – als beliebtes Mittel der Asylbehörde, die Zahl der Asylanerkennungen tief zu halten, besonders wenn die externe Kontrolle fehlt. Die Schengener Länder in und am Rande der EU planen ebenfalls solche Kurzverfahren in Auffangzentren an der Aussengrenze, die als exterritorial gelten. So erfüllen die Aufnahmeländer faktisch die Forderungen ausländerfeindlicher Kreise, ohne formal gegen die Flüchtlings-Konvention zu verstossen.

Hürden und Schikanen

Es gibt zusätzlich weitere Hürden im beschleunigten Asylverfahren. So die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten zu unabhängigen NGOs. Die vom SEM angestellte Rechtsvertretung gab dem fünften Cousin seine Unterlagen zurück und verzichtete darauf, für ihn eine Beschwerde zu schreiben. Diese Aufgabe übernahm notfallmässig ich, eine Freiwillige, eine Nicht-Juristin. Aber trotz Vollmacht war es mir unmöglich, den in den Zentren des SEM abgeschotteten Cousin zu kontaktieren. Nur dank einiger in der Umgebung der Zentren lebender Freunde, die sein Onkel kannte, vermochte ich am vorletzten Tag der kurzen Beschwerdefrist den Cousin zu erreichen. Wie soll es denn erst recht den maghrebinischen Asylsuchenden im 24-stündigen Asyl-Verfahren gelingen, einen Rechtsbeistand zu kontaktieren?

Weitere Hürden für Asylsuchende sind der Entzug von ausreichenden Lebensgrundlagen für die Weggewiesenen, das Reiseverbot zu Angehörigen in den Nachbarländern sowie die Unsicherheit des Aufenthalts der «vorläufig Aufgenommenen», ihre geringe Förderung beim Spracherwerb, bei der Berufsausbildung und bei der Arbeitssuche. Trotz Notstands in manchen Mangelberufen. Manche träumen davon, Buschauffeur oder Pflegerin zu werden. Der Weg dorthin versperrt ihnen jedoch die Asylbürokratie. Lieber rekrutiert man ausgebildete Pflegerinnen aus den Philippinen und Tunesien, als das Potenzial der hier anwesenden MigrantInnen zu nutzen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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4 Meinungen

  • am 2.05.2024 um 11:41 Uhr
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    «danke» für die traurige Beschreibung der Realität. Mir ist immer wieder ein Rätsel mit welcher Empathielosigkeit Politiker Verordnungen und Gesetze schreiben. Ich habe daher Hoffnung mit BR Jans das es in die richtige Richtung geht im Wissen, dass weiterhin viel Leid und Unrecht passiert.

  • am 2.05.2024 um 12:06 Uhr
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    Wir entziehen anderen Ländern ausgebildete Fachkräfte, profitieren also von gesparten Ausbildungskosten, und drücken uns gekonnt mit Alibiaufnahmeverfahren vor der völkerrechtlich vereinbarten Verantwortung gegenüber Flüchtenden, also Schwachen. Bei den Reichen lernt man sparen. Wir schädigen schwache Länder und Menschen gleich zweifach. Weil wir stärker sind. Dass solches Verhalten auch auf unseren Gesellschaftsvertrag, wonach jeder, schwach oder stark, dieselben Rechte hat in der Schweiz, abfärbt, und damit den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefährdet, darüber sollten Herr Bundesrat Jans und alle Akteure in der Politik mal nachdenken und über die Konsequenzen.

  • am 2.05.2024 um 14:42 Uhr
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    Was uns die Obrigkeit als Rechtssystem zumutet, ist schon lange nicht mehr für Menschen gemacht. Selbst bei harmlosen Beschwerden z.B. im Planungsrecht staune ich, mit welcher Akribie die Gerichte Gründe suchen, weshalb sie nicht zuständig sind. Oft ist der Beschwerdeführer nicht einer materiellen Antwort würdig, weil er einen wirtschaftlich-materiellen Schaden nicht als unanfechtbar dokumentieren kann.
    Verfahren unter Angst, Zeitdruck und in Fremdsprache können gar nicht fair sein. Sie sind das politische Mäntelchen für eine politische Triage. Ehrlicherweise würden die politischen Würdenträger diese auch als solche bezeichnen.

  • am 3.05.2024 um 10:07 Uhr
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    Durch wieviele sichere Drittstaaten sind die fünf denn gereicht, bevor sie Asyl in der Schweiz beantragt haben? Eigentlich müsste Asyl verweigert werden, weil sie sichere Drittstaaten durchquert haben.

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