Kommentar
kontertext: Am toten Punkt
Nach der Abfahrt von der Insel der Kalypso geriet Odysseus in einen von Poseidon entfesselten Sturm. Leukothea, die als Gottheit des Meeres den Schiffbrüchigen beistand, riet Odysseus sein Boot zu verlassen und sich schwimmend an das Ufer des Landes der Phäaken zu retten. Dies gelang dem Helden in Seenot nur, weil ihm die Göttin für dieses Rettungsmanöver ihren Schleier zugeworfen hatte.
Glücklich, wer heute als Flüchtling dank göttlicher Seenothilfe sein eigenes Leben retten könnte. Das Sterben auf dem Mittelmeer hält jedoch an. Wir schauen weg statt ins Herz der Tragödie. So sieht Realpolitik aus. Tausende Schiffbrüchige aus Afrika ertranken bereits in dem abgrundtiefen Seegrab. Gegen den Ansturm der Flüchtlinge ist ein eigentlicher Wettkampf der Härte ausgebrochen. In der Schweiz wird die Migration im Windschatten der Mittelmeeranrainerstaaten und der EU verbürokratisiert. Rettungsschiffe von Nichtregierungsorganisationen werden bei ihrer Arbeit behindert. Helfern wird vorgeworfen, sie arbeiteten den Schleppern in die Hände, weil sie letztlich deren dreckige Arbeit übernähmen. «Jeder Mensch hat das Recht, … in anderen Ländern Asyl zu suchen», besagt Artikel 14 der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte » – und sei es auf dem gefährlichen Seeweg. Vor einem Jahr kamen deutsche Parlamentsjuristen zum Schluss, dass die Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot tief verankert sei «in der Jahrhunderte alten, maritimen Tradition» und dass diese Pflicht «gemeinhin als ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht» gelte. (faz.net 03.08.17) Das Gebot, Flüchtlinge in Seenot zu retten, ist also zwingend. Schon Schillers Tell steht vor der Gewissensfrage der unumgänglich zu leistenden Seenothilfe, als es darum geht, anstelle des kneifenden Fährmanns Ruodi den flüchtigen Mörder des Burgvogts Baumgarten vor seinen Häschern über den stürmischen Vierwaldstätter See zu retten. Tell befolgt diesen moralischen Imperativ mit den Worten:«Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt, / Vertrau auf Gott und rette den Bedrängten.» So müsste auch heute Solidarität eingefordert werden. Aber die Zeiten sind nicht danach.«Was ist das für eine Welt», klagte der Kapitän des privaten Seerettungsbootes «Lifeline» Claus-Peter Reisch, «in der stärker gegen das Retten als gegen das Sterben vorgegangen wird?» Man könnte diese Pervertierung nicht schärfer formulieren. Die afrikanischen Flüchtlinge auf ihrer Todespassage sind der Katalysator von Europas Legitimitätskrise. Angela Merkels Appell «Wir schaffen das!» ist längst im Schlund der Resignation verhalltes Echo. Politik und Medien sind inzwischen noch rechtslastiger geworden, was sich in der täglichen Information niederschlägt. Vorteilssüchtige Populisten rechnen nationalstaatliche Partikularinteressen zynisch mit Toten statt mit Geretteten auf. Unter den Augen der Massentouristen an den herrlichen Stränden Spaniens und Italiens lassen wir diese Danse macabre zu. Wo bleibt der Protest gegen die Menschenverächter des kalten Gewissens an den Schalthebeln der Macht? Manche, die nicht wollen, dass Flucht kriminalisiert wird und dass Menschen, die zu uns fliehen, unterwegs ertrinken, brauchen allzu lange, bis sie die Tricks ihrer politischen Gegner durchschauen. Die universellen Menschenrechte würden an den Rand gedrängt, unsere Freiheit sei uns zu anstrengend geworden und nur mit Stacheldraht durchzusetzen, warnte der Historiker und Schriftsteller Philipp Blom zur Eröffnung der diesjährigen Salzburger Festspiele.
Der Untergang des Abendlands steht aber noch nicht bevor. Die Kanäle für den Verhandlungsweg sind prinzipiell offen. Das Netz ermöglichte wirkungsmächtige Grossinitiativen und auch die internationalen Organisationen können eingebunden werden, damit eine radikale Utopie Realität werden kann. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner könnte das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie das Recht auf die Freiheit von Diskriminierung sein. «Der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser» heisst es in Bertolt Brechts Gedicht «An die Nachgeborenen». Brecht wäre zu entgegnen: Je mehr Zornige sich jetzt als Teile der Zivilgesellschaft gegen die Misere im Mittelmeer lauthals artikulieren, desto eher kann das Massensterben auf dem Meer eingedämmt werden. Der Politik der Angst ist Einhalt zu gebieten. «Empört Euch!» Dieser Appell des Diplomaten Stéphane Hessel ist das Gebot der Stunde. Über Parteigrenzen hinweg. Nicht ohne dabei auch kritische Konsequenzen humanitärer Aktionen ausser Acht zu lassen. Und nicht zu vergessen: Im Mythos vom Schleier der Leukothea steckt die Hoffnung für die Schiffbrüchigen von heute.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Heinrich Vogler, geboren 1950 in Basel. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie der Politik. War Journalist / Redaktor bei Radio DRS und SRF 2 Kultur. Arbeitete als Kultur- sowie jahrelang als Literaturredaktor. Bis zur Pensionierung Ende 2015. War freier Literaturkritiker für Berner Zeitung, Tages-Anzeiger und NZZ.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
lieber heinrich
es gibt etwas hoffnung. siehe:
https://www.woz.ch/-8e48
aber dafür brauchen wir die hilfe vieler. und stadtregierungen müssen nun möglichst schnell überzeugt werden da mitzumachen.
berlin und amsterdam, barcelona und valencia sind bereits dabei.
und die bürgermeister von palermo und napoli sowieso –
die nationalstaaten sind nicht in der lage mit der situation umzugehen. also sollen es die rot-grün regierten städte tun.
da gibt es doch auch ein gedicht von bert brecht?
herzlichst
johanna
Nichts vom Inhalt dieser Stellungnahme ist schlechterdings falsch, ein wichtiger Aspekt wird jedoch ausgeklammert: Das traditionelle Recht auf Seenotrettung rechnet nicht mit dem Fall, dass Schiffbrüchige sich absichtlich in Seenot bringen (oder von dritter Seite in Gefahr gebracht werden), um Staaten zur Erteilung von Einreisebewilligungen zu nötigen. Juristisch wäre ein solches Vorgehen als Rechtsmissbrauch zu werten.
Man kann in der Frage, wieviel Gastfreundschaft wir praktizieren wollen, in guten Treuen verschiedene Ansichten vertreten. Selbstverständlich steht den Staaten das Recht zu, die Einwanderung zu reglementieren und begrenzen. Das Ansinnen, solche Diskussionen mit rechtlichen Scheinargumenten a priori zu verhindern oder ins Leere laufen zu lassen, halte ich für brandgefährlich und für eine (oder vielleicht sogar die wichtigste) Ursache dafür, dass die ‹einfachen Leute› nach wie vor in Scharen rechtsnationalen Rattenfängern in die Arme laufen.