Gewalt an Asylsuchenden: NGO kritisiert Bericht als einseitig
Es waren schockierende Enthüllungen, welche im letzten Jahr die Runde machten: In Schweizer Bundesasylzentren wurden Menschen von Sicherheitspersonal in sogenannten Besinnungsräumen verprügelt. So berichteten es mehrere Medien. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Schweiz hatte die Misshandlungen in insgesamt 14 Fällen minutiös dokumentiert. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) reagierte, indem es eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gab. Im Herbst veröffentlichte das SEM den Bericht. Dessen Titel: «Keine Hinweise auf systematische Gewalt in den Bundesasylzentren». Viele Medien übernahmen den Spin unhinterfragt.
Monate später wird noch immer um die Deutungshoheit dieses Berichts gekämpft. Die Nichtregierungsorganisation Humanrights.ch hat sich nun sogar mit ex-Bundesrichter Niklaus Oberholzer angelegt, der die Misshandlungsvorwürfe im Auftrag des SEM untersucht hatte. In einem Artikel wirft die NGO dem ex-Bundesrichter methodische Fehler vor. Er sei einseitig vorgegangen und habe falsche Schlussfolgerungen gezogen. Besonders der Vorwurf der Einseitigkeit wiegt schwer. Die NGO begründet ihn damit, dass Oberholzers Bericht nicht viel mehr sei als eine Sekundärrecherche auf Basis von Dokumenten, ergänzt mit Gesprächen mit privaten Sicherheitsfirmen (welche in Asylzentren für die Sicherheit sorgen) sowie des Staatssekretariats für Migration. Jedoch habe es Oberholzer unterlassen, auch Gespräche mit den betroffenen Asylsuchenden oder deren VertreterInnen zu führen, auch Zeugen habe er keine angehört. Dies lasse verschiedene gezogene Rückschlüsse nicht zu. Zusammengefasst: Humanrights.ch impliziert, die Untersuchung zu Menschenrechtsverletzungen sei mehr oder weniger am Schreibtisch entstanden.
«Doppelzüngiger Vorwurf»
Auf Anfrage des Infosperbers nahm Niklaus Oberholzer zu den Vorwürfen Stellung. Zum einen weist er daraufhin, dass es nicht Aufgabe einer Administrativuntersuchung sei, einzelnen Betroffenen Gerechtigkeit zu verschaffen. Sondern «ausgehend von konkreten Ereignissen organisatorische oder strukturelle Mängel zu erkennen und damit einen Beitrag zur Verbesserung der Situation für alle potenziell Betroffenen zu erreichen.» Komme dazu, dass in sechs der sieben untersuchten Fälle eine Strafuntersuchung hängig sei, die er nicht habe gefährden wollen.
Trotzdem sagt er, dass er es durchaus versucht habe. Er habe Medien und Organisationen nach Rechercheergebnissen und Kontaktpersonen gefragt, diese hätten jedoch abgelehnt. Er bezeichnet den Vorwurf der NGO darum als «doppelzüngig». Auch habe er bei den meisten untersuchten Fällen aufgrund der von Medien und NGO’s recherchierten Fakten eine problematische Gewalteskalation festgestellt. «Welche zusätzlichen Erkenntnisse hätten weitere Anhörungen der Betroffenen bringen können?» Er sei zum Schluss gekommen, dass die Forderung nach einer «radikalen Umgestaltung» allen Bewohnerinnen und Bewohnern in den Bundesasylzentren mehr diene als das «spektakuläre Aufdecken von zusätzlichen Einzelfällen.»
Tatsächlich hatte Oberholzer in dem Bericht – anders als dass es die Deutung durch das SEM vermuten lässt – deutliche Kritik geäussert, so etwa an der Auslagerung der Sicherheitsaufgaben an private Organisationen. Er empfahl dem SEM unter anderem, Schlüsselpositionen in den Zentren mit Beamten zu besetzen, vorzugsweise solchen mit polizeilicher Ausbildung. Er schlug zudem weitere Massnahmen vor. So sollten die Mitarbeitenden der privaten Sicherheitsdienste besser geschult und der Einsatz der umstrittenen Besinnungsräume klar geregelt werden. Das SEM hatte nach Pulibkation des Berichts mitgeteilt, einige Empfehlungen Oberholzers umzusetzen oder sie zumindest zu prüfen.
Foltervorwurf oder nicht?
Die investigativen Recherchen von Medien und NGO’s zeigten also durchaus Wirkung. Warum also das Nachtreten? Humanrights.ch nahm auf Anfrage keine Stellung, verwies stattdessen auf die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Schweiz, mit der man den Artikel «in enger Zusammenarbeit» verfasst habe. Amnesty war es auch gewesen, die den Stein mit einem Bericht über die Missstände ins Rollen gebracht hatte. Dort heisst es, dass man die Bereitschaft zu Massnahmen des SEM begrüsse. «Dass plötzlich alles so schnell ging und Massnahmen ergriffen wurden, war nur dank den Recherchen von Medien und Menschenrechtsorganisationen möglich», sagt Sprecher Beat Gerber. Amnesty fordert allerdings weitere Schritte, die im Untersuchungsbericht Oberholzer nicht angesprochen wurden: so etwa eine Anlaufstelle und ein effektiver Schutz für WhistleblowerInnen, welche Missstände in den Zentren melden.
Humanrights.ch fordert zusätzlich für eine korrekte Aufarbeitung des Gewaltproblems «eine grossangelegte Untersuchung nach wissenschaftlicher Methodik unter Anwendung menschenrechtsgestützter Indikatoren.» Die Kritik von Humanrights.ch an der Methodik teilt Amnesty International Schweiz weitgehend. Der Bericht sei nicht geeignet, um alle Gewaltvorfälle abschliessend zu beurteilen oder strukturelle Probleme auszuschliessen. Und der Vorwurf der «Doppelzüngigkeit»? Auf Nachfrage räumt Amnesty ein, dass Oberholzer zwar Kontakt aufgenommen habe. Man habe ihm die recherchierten Erkenntnisse in «konstruktiven Gesprächen» erläutert. Aus Quellenschutzgründen habe man aber keine detaillierten Informationen zu den Einzelfällen weitergeben können. «Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe an, die Strafverfolgung oder andere Untersuchungsmechanismen mit unserer Recherche zu unterstützen, sondern in erster Linie auf (in diesem Fall systemische) Menschenrechtsprobleme aufmerksam zu machen», so Sprecher Beat Gerber.
Beim Staatssekretariat für Migration scheint man nach den schockierenden Berichten aus den Bundesasylzentren auch um kommunikative Schadensbegrenzung bemüht. Begriffe wie Schlägereien, Misshandlungen und Folter haben sich in der Öffentlichkeit eingeprägt. Auf Anfrage schreibt das SEM, dass der teilweise «von Nichtregierungsorganisationen oder Medien vermittelte Eindruck», in Bundesasylzentren werde gefoltert, «irreführend und falsch» sei. Dies decke sich mit den Feststellungen nationaler und internationaler Kommissionen (z.B. der Nationalen Kommission zur Verhinderung von Folter NKVF). Bei Amnesty International Schweiz wiederum heisst es, man habe dem SEM nie systematische Misshandlungen oder Folter vorgeworfen. Die fragliche Passage aus dem Amnesty-Bericht lautet: «Die dokumentierten Fälle geben Anlass zur Besorgnis über Misshandlungen durch Sicherheitskräfte, die in einzelnen Fällen der Folter gleichkommen könnten.»
Der Kampf um Deutungshoheit wird auch um einzelne Worte geführt.
In einer früheren Version des Textes hiess es, Amnesty International habe insgesamt 7 Fälle von Misshandlungen in Schweizer Bundesasylzentren dokumentiert. Tatsächlich sind es 14. Die Redaktion hat den Fehler korrigiert.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
meine Erfahrung-zwar einige Jahre zurueck in einem Asylzentrum im Kt.SG war gut. Zwar waren/sind die raeumlichen Verhaeltnisse eher bescheiden – aber immer noch im Vergleich was die allermeisten Asylsuchenden (AS) in ihrem Land kennen,ok. Verpflegung, Hygiene/Sauberkeit waren/sind ok und die Mitarbeitenden waren engagiert,
den AS nebst Lernmoeglichkeiten (Sprache, Handwerk etc.) vernuenftige Aktivitaeten/Freizeit zu bieten.
Ja, der letzte Satz des Beitrags steht für so Vieles, was derzeit rundherum gesehen werden kann.
Schlussendlich geht es in der Tiefe, bei jeder einzelnen Betrachtung, Festlegung, Deutung, immer wieder nur um das Eine: «richtig zu sein».