«Festung Europa»: Es wird Zeit für ein anderes Bild
Red. Stefan Schlegel hat mit einer Arbeit zum Migrationsrecht der Schweiz doktoriert und arbeitet als Postdoc am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen. Er ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied der liberalen Bewegung Operation Libero.
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Austerlitz, der rätselhafte und einsame Protagonist in W. G. Sebalds gleichnamigem Roman, dessen Wissen über Architektur unerschöpflich zu sein scheint, sagt über die Geschichte des Festungsbaus, gerade die gewaltigsten Pläne verrieten nicht selten auch am deutlichsten den Grad unserer Verunsicherung. So liesse sich etwa am Festungsbau gut zeigen, «wie wir, um gegen jeden Einbruch der Feindesmächte Vorkehrungen zu treffen, gezwungen seien, in sukzessiven Phasen uns stets weiter mit Schutzwerken zu umgeben, so lange, bis die Idee der nach aussen sich verschiebenden konzentrischen Ringe an ihre natürliche Grenze stosse». Oft merkten die Erbauer der Festung selber nicht, dass man sich «in eben dem Mass, in dem man sich verschanzt, tiefer und tiefer in die Defensive begibt und daher letztendlich gezwungen sein konnte, hilflos von einem mit allen Mitteln befestigten Platz aus mit ansehen zu müssen, wie die gegnerischen Truppen, in dem sie anderwärts ein von ihnen gewähltes Terrain auftaten, die zu regelrechten Waffenarsenalen gemachten, vor Kanonenrohren starrenden und mit Mannschaften überbesetzten Festungen einfach seitab liegenliessen».
Das Bild von einer «Festung Europa» stösst rasch an seine Grenzen. Weder sind Migrierende, die abzuwehren sie die Aufgabe hat, Feinde, noch sind sie als Truppen organisiert. Es ist eine der offensichtlichen Gefahren dieses Bildes, dass es eine organisierte Belagerungsmacht impliziert und daher gut zur Erzählung einer «Umvolkung» oder «Völkerwanderung» passt, also einem koordinierten und geplanten Angriff auf den Westen mit demographischen Mitteln. Das erklärt auch, warum die «Adolf Hitler-Hooligans», als sie durch Chemnitz zogen, «Festung Europa! – Macht die Grenzen dicht!» skandierten.
Aber das Bild der Festung trägt doch weit genug, um das grundsätzliche Problem der europäischen Migrationspolitik offenzulegen: dass eine Abwehrinfrastruktur ihre Erbauer zu zunehmend paranoiden Gefangenen ihrer eigenen Elaboration macht, sie in die Reaktion zwingt und dass die Abwehrinfrastruktur immer zu klein und veraltet sein wird und zwangsläufig rasch an die Grenze des Machbaren stösst.
Immer in Rücklage
Je eher Migration zu einer Opportunität wird, desto eher schafft ihre Verhinderung Opportunitätskosten. Eine Migrationspolitik, die sich auf die Abwehr und die mengenmässige Steuerung von Migration konzentriert, kann aber nicht auf diese Opportunitäten Einfluss nehmen, sondern bloss um einen Umgang mit den wachsenden Opportunitätskosten ringen. Eine solche Politik kann nur mit unvermeidbarer Rücklage nachvollziehen, was anderswo entschieden worden ist, meist nicht an einem einzigen Ort, sondern von einer Vielzahl autonomer Akteure.
Zeugnis für dieses Hinterherhasten ist der enorme Regulierungsdruck im Migrationsrecht und die enorme Kadenz seiner Anpassung. Das gilt besonders für das Asylwesen (aber auch für das Ende der sogenannten «Saisonnier»-Politik und die Einführung der Personenfreizügigkeit in der Schweiz, beides Entwicklungen, welche die Eidgenossenschaft gegen den Willen ihrer Politiker auf äusseren Druck hin nachvollziehen musste). Die Reformen im Umgang mit prekärer Migration sind typischerweise nicht blosse Nachjustierungen oder Anpassungen, sondern Paradigmenwechsel, wenn auch Wechsel innerhalb des übergeordneten Paradigmas, dass Migration abgewehrt werden müsse. Zunächst wurde der Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende möglichst lange abgeschottet.
Das hat sich als Fiasko erwiesen. Dann wurden Asylsuchende immer stärker an der Peripherie der Gesellschaft, an möglichst entlegenen Orten untergebracht. Das hat sich als aufwendige Schikane herausgestellt. Dann wurden die Gründe für ein Nichteintreten auf ein Asylgesuch stetig ausgebaut, soweit, bis die Frage, ob auf ein Gesuch eingetreten werden könne, fast ebenso kompliziert zu beantworten war wie das Gesuch selbst, weshalb auch diese Politik abgebrochen und durch möglichst rasche Verfahren, verbunden mit einem leistungsfähigen Repressionsdispositiv, ersetzt worden ist. Dieses wird mittlerweile seinerseits wieder überlagert von der Idee, Migration möglichst vor Ort abzufangen und das Ersuchen um Asyl möglichst zu erschweren, indem die Stellen, an denen dies möglich ist, sich weiter hinter Gelände und Zäune zurückziehen. Keiner dieser Paradigmenwechsel ist antizipierende Gestaltung. Alle sind der Versuch einer Reaktion auf einem Feld, das von anderen, von Migrierenden oder ihren Herkunftsstaaten, aufgetan wurde.
Streichwehr, Bild: Wikimedia Commons (aufgenommen in: Deutsche Fotothek)
Ein Wettrüsten
Die Analogie der Festung trägt aber auch insofern, als Technologie ein entscheidender Treiber ist und die Festung in der Regel noch vor der Fertigstellung technisch überholt ist. Austerlitz berichtet: «Obzwar an der Einnahme von Antwerpen der ganze Wahnsinn des Befestigungs- und Belagerungswesens offenkundig wurde, zog man aus ihr unbegreiflicherweise nur die einzige Lehre, dass man nämlich die Ringanlagen um die Stadt um vieles mächtiger wieder aufbauen und weiter noch nach draussen verschieben müsse.» Die Materie, aus der die Festung Europa lange gebaut war, war Distanz. Je einfacher es wird, Distanz zu überwinden, desto rascher muss die Festung nach aussen hin ausgedehnt werden.
Wenn es für die Festung Europa eine «natürliche Grenze» der «nach aussen hin sich verschiebenden Ringe» gibt, dann erreicht sie diese, wo der Bau von Asylzentren oder «Ausschiffungsplattformen» in den Herkunfts- oder jedenfalls den daran angrenzenden Transitstaaten zum Gebot der Stunde erhoben wird. Statt Distanz sollen neue «Kapazitäten im Grenz- und Migrationsmanagement vor Ort» die Substanz der Festung ausmachen. Ein verstörender Nebeneffekt der Denklogik, die nur noch ein Weiter-nach-draussen-Verschieben der Mauern zulässt, ist, dass Transit- und Herkunftsstaaten zu Aufmarschgebieten werden, die von der Festung aus notwendigerweise dominiert werden müssen, wenn sie nicht umsonst errichtet worden sein soll. Daraus ergibt sich jene neue Herrenmenschenmentalität, die von der Forderung, in Afrika Infrastrukturen zur Durchführung von Verfahren oder zur Durchführung von Rückübernahmen zu errichten, rasch bei der Forderung angelangt ist, mit militärischen Mitteln in Nordafrika «einen Raum zu erzwingen», wo Migrierende abgeladen werden können.
So wie das Personal der gesamten belgischen Armee in Austerlitz’ Beschreibung nicht mehr ausgereicht hätte für die Besetzung der noch einmal vergrösserten Festung von Antwerpen, so ist die Idee von Zentren ausserhalb Europas auch deshalb unrealistisch, weil sie die Notwendigkeit von sehr viel Infrastruktur und Personal mit sich bringt, das entlang eines sehr weitläufig gewordenen Aussenrings unter prekären Bedingungen eine freud- und fruchtlose Arbeit leisten müsste.
Es ist spätestens dieser Moment (nach humanitären Gesichtspunkten wäre der Moment schon viel früher gekommen), an dem die Strategie der Festung grundsätzlich hinterfragt werden muss; in dem die Frage erlaubt sein muss, ob an der Idee, Migration grundsätzlich abwehren zu wollen, nicht etwas grundlegend verkehrt sei. Aber die Metapher von der Festung erschwert es, diese Grundsatzfrage zu stellen.
Korrumpiert die eigenen Möglichkeiten
Im Nachhinein ist es schwer zu beurteilen, ob die Idee, Migration sei eine vorübergehende Störung der natürlichen Ordnung und müsse wieder «in den Griff bekommen» werden, die Ursache für den unbeirrbaren weiteren Ausbau der Festung ist, oder eher ihre Folge. Aber dass sich die Fixierung auf die Festung durch deren stetigen Ausbau noch verstärkt, liegt auf der Hand. Jede Rolle Stacheldrahtzaun, jedes Projekt, Migration noch näher «am Ursprung» zu unterbinden, verstärkt die Tendenz, von der natürlichen Richtigkeit dieser Massnahme auszugehen. Je klarer die Annahme durch die Wirklichkeit widerlegt wird, je klarer sich Migration immer resoluteren Versuchen der Regulierung entwindet, desto obsessiver wird die Vorstellung einer «Wende», einer «Rückgewinnung der Migrationshoheit» und eines «take back Control».
Dass nur noch die Rückeroberung als mögliches Ziel in Frage kommt, liegt am Ursprung einer Reihe von problematischen Denkfiguren zu Migration. Die grundlegendste davon ist die Unmöglichkeit, Migration anders als ein Symptom von tieferliegenden Problemen einzuordnen, welche ihrerseits gelöst werden können (woraufhin dann Migration versiegen werde). Der Kalauer dazu ist die Umkehrung von Seehofers Aussage, die Migration sei die Mutter aller Probleme zu «Probleme sind die Mutter aller Migration». Ein gewichtigeres Beispiel dafür ist der angekündigte «Marshall-Plan für Afrika», der Migration die Ursachen entziehen soll. Es ist völlig unerheblich, wie viel Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass wirtschaftlicher Aufschwung eher zu einer Zunahme von Migration statt zu einer Abnahme führt und dass ein grösserer wirtschaftlicher Hebel des Herkunftsstaates eher zu weniger Möglichkeiten führt, Migration rechtlich zu steuern, als zu mehr. Die Fixierung auf das Ziel der Rückgewinnung von Kontrolle macht diese Perspektive denkunmöglich.
Ein anderes Beispiel solch problematischer Denkfiguren ist die Idee der «mixed migration flows», die davon ausgeht, dass auf jedem Schlauchboot im Mittelmeer, auf jedem Lastwagen, der sich aus dem Niger auf den Weg durch die Sahara macht, einige Menschen befinden, die aus humanitären Gründen, und einige, die aus ökonomischen Gründen migrieren. Es ist eine Denkfigur, welche die Kriterien, nach denen das Recht Migrierende selektioniert, mit den realen Beweggründen für Migration verwechselt. Die Reduktion eines Migrationsereignisses – eigentlich die Reduktion einer ganzen Person – auf einen ausschlaggebenden Migrationsgrund steht so quer zur allgemeinen Lebenserfahrung, dass sie nur vor dem Hintergrund der fixen Idee der Rückgewinnung von Steuerungsmacht möglich erscheint. Sie trägt in sich die tröstliche Illusion, dass man nur gut genug zu unterscheiden lernen brauche zwischen den Richtigen und den Falschen, um Steuerungsmacht zurückgewinnen (und diese erst noch mit Humanität kombinieren) zu können.
Diese Reduktion in den Mitteln, die Realitätsbeschreibung aufgrund einer Reduktion der denkbaren Optionen, hat ganz reale Folgen. Fast alle Steine, die man Flüchtlingen in ihren Weg zur Anerkennung legt, hängen mit der Vorstellung zusammen, es gebe eine Möglichkeit, sie von anderen Migrierenden klar zu unterscheiden und wenn man das nicht tue, dann werde es zu einem «Dammbruch» kommen. Dass Flucht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention von einer Mehrheit der Bevölkerung als legitim angesehen wird, nützt nicht viel, wenn umgekehrt Migration als Form des pursuit of happiness als illegitim empfunden wird und unter dem Eindruck eines abzuwehrenden Dammbruchs unterbunden wird. Asylsuchende stehen dann stets im Verdacht, ihr Leben auf illegitime Art verbessern zu wollen. Sie können stets im Kontrast zu den imaginierten «eigentlichen» Flüchtlingen dämonisiert werden. Das Los von Schutzsuchenden kann daher nur dann entscheidend verbessert werden, wenn das Los von Migrierenden allgemein verbessert wird, wenn Migration als grundsätzlich legitime Methode gilt, nach der Verbesserung der eigenen Lebensumstände zu streben.
Die Rückgewinnung der Gestaltungsmacht
Es ist wichtig, regulatorische Techniken zu erörtern, mit denen Migration möglichst humanitär und möglichst klug allmählich liberalisiert werden könnte. Aber noch wichtiger – weil dieser technischen Lösungssuche vorgelagert – ist der Mut und die Bereitschaft, sich vom Tunnelblick zu emanzipieren, der innerhalb der Festung unbemerkt den Blick verengt. Es braucht die Bereitschaft, eine Welt zu denken, in der Migration grundsätzlich erlaubt ist und nur noch ausnahmsweise verboten. Es braucht den Mut, sich auf eine Zukunft einzulassen, in der Migration sich aus strukturellen Gründen zunehmend staatlicher Kontrolle entwinden wird. Haben wir uns damit einmal abgefunden, werden viele menschliche Härten und Grausamkeiten, die wir heute hinzunehmen bereit sind, nicht mehr vertretbar sein. Sie sind nur vor dem Hintergrund einer Festungs-, Dammbruch- und Rückgewinnungslogik erklärbar.
Bleibt die Frage, wie der Trend zur zunehmenden Fixierung auf die Einmauerung durchbrochen werden könnte. Der Schlüssel dazu ist, wie Austerlitz sagt, die «wachsende Einsicht», dass «alles sich in der Bewegung entscheidet und nicht im Stillstand». Die Emanzipation von der «Festung» ist also eine Vorbedingung für den Rückgewinn von Gestaltungsmacht. Es ist ein bescheidener gefasster Gestaltungsanspruch als der Anspruch, Migration in ihrem Ausmass und in ihrer Herkunft steuern zu können. Regulatorisch gesprochen geht es um die Aufgabe einer Prohibitionspolitik zugunsten einer Politik, mit der die riskante, aber potenziell für alle nützliche Tätigkeit der Migration reguliert statt unterdrückt wird.
Der Weiterbau an der Festung, der uns als eine Politik der Stärke und Entschlossenheit verkauft wird, ist hingegen ein Zeichen unbeirrbarer Ratlosigkeit.
Der Autor dankt Alberto Achermann für den Hinweis auf Sebalds Auseinandersetzung mit Festungsbauten.
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Dieser Text erschien erstmals auf Geschichte der Gegenwart.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Bei der Migrationsfrage ist der Mangel an Kreativität erschreckend. Migranten kommen als Flüchtlinge vor tödlichen Umständen oder um bitterer Armut zu entfliehen. Wenn diese Gründe nicht mehr gelten, würden die meisten in ihre Heimat zurückkehren. Dann wären sie entweder Freunde, die uns den Zugang zu ihren Märkten erleichtern oder Gegner, die sich bei jeder Gelegenheit gegen uns stellen würden.
Diese Entscheidung liegt bei uns: wir können ihnen eine Möglichkeit bieten, sich weiterzubilden und zu arbeiten, um später mehr Erfolg in der Heimat zu haben und sie bei einer verbesserten Lage in ihrer Heimat mit einem Startkapital zurückschicken. Oder wir können ihnen zeigen, wie sehr wir sie als Fremde ablehnen. Wären wir langfristig denkende Kapitalisten, dann hätten wir keine Mühe, die richtige Wahl zu treffen. Stattdessen erleben wir Stammesverhalten der miesesten, dümmsten Art.
Die Metapher «Festung» zeichnet mir die Problematik zu einseitig. Menschen entwurzeln sich durch Migration. Meistens nicht aus Jux und Tollerei. Sie verlieren ihren Lebenszusammenhang. Und ab einer gewissen «Menge» kommt es auch zur Entwurzelung der Menschen in den Gebieten, die von Fremden bevölkert werden. Menschen bestehen nicht nur aus Haut und Haar, sondern aus ihrer Verflechtung mit der Umwelt. Freiwillig oder erzwungen lassen sie sich aus ihren Zusammenhängen «hacken», als wären sie Klötzchen, die woanders die gleichen bleiben. Unser globales Wirtschaftssystem kümmert sich nicht darum, sondern will die (potenziellen) Arbeitskräfte wie Waren hin und her schicken.
Ich bin auch nicht für oberflächliche oder gar gewaltsame Systembekämpfung. Ich begrüße sogar fast, dass durch die Migration aus armen Ländern uns hier bewusst gemacht wird, dass wir uns nicht länger im Wohlstand einigeln können. Aber das bloße Niederreißen der Festungsmauern ist auch nicht die Lösung.
G.K.
# Michael Mortier
Migration heisst Völkerwanderung. Deren Geschichte ist lang, ihre Ursachen sind weitestgehend erforscht. Früher war es eher die Natur, bald wohl auch wieder. Die heutige Migration ist Folge unseres (Zitat) «Stammesverhalten der miesesten, dümmsten Art."
Aber auch diese unsere Dummheit wird die Natur regeln, nicht nur mit Migration.