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Eine Untersuchungskommission stellt der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ein miserables Zeugnis aus: Frontex hat es versäumt, Grundrechtsverletzungen anzusprechen und zu verhindern. Belastendes Material wurde vernichtet, Menschenrechte haben keine Priorität. Die Liste der festgestellten Mängel ist weit länger. © pixabay (Symbolbild)

EU-Grenzschutzagentur Frontex macht was sie will

Tobias Tscherrig /  In einer monatelangen Untersuchung ging das Europaparlament Vorwürfen nach, ob Frontex in illegale Pushbacks verwickelt war.

Während Monaten haben EU-Parlamentarierinnen und Parlamentarier untersucht, ob die europäische Grenzschutzagentur Frontex in illegale Pushbacks von Flüchtlingen in der Ägäis verwickelt war – und ob sie davon gewusst hatte. Damit reagierten sie auf Enthüllungen von Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsbeauftragten und Medien wie dem «Spiegel», der gemeinsam mit den Medienorganisationen «Lighthouse Reports», «Bellingcat» und dem ARD-Magazin «Report Mainz» aufgezeigt hatte, dass Frontex in der Ägäis in illegale Pushback verwickelt ist und sich bei Menschenrechtsverletzungen sogar zum Komplizen gemacht hatte.

Frontex und ihr Direktor Fabrice Leggeri reagierten erst nach langem Zögern auf die Vorwürfe und wiesen sie schliesslich zurück.

Die Ergebnisse des Untersuchungsberichts, die nun vorliegen, sind nun aber gleich doppelt vernichtend: Erstens lagen Frontex Beweise für die mutmasslich illegalen Pushbacks durch griechische Grenzschützer vor, trotzdem blieb die Grenzschutzagentur untätig. Frontex habe es «versäumt, die Grundrechtsverletzungen anzusprechen und zu verhindern». Zweitens kommt vor allem Leggeri unter die Räder. Unter anderem soll er belastendes Material vernichtet haben. Die Vorwürfe an seine Adresse reichen aber viel weiter, die EU-Abgeordneten listen seine Verfehlungen auf insgesamt 17 Seiten auf.

Dann fehle ein funktionierender Rahmen für den Informationsaustausch zwischen Frontex und den EU-Mitgliedsstaaten, auch die Arbeitsteilung funktioniere nicht. Die Kommission als Hüterin der Verträge und der Europäische Rat müssten Frontex stärker überwachen, kommt der Untersuchungsbericht zum Schluss.

«Abrechnung mit Leggeri»

Die Prüfgruppe des EU-Parlaments heisst «Frontex Scrutiny Working Group», der Vorsitz hält die maltesische Abgeordnete Roberta Metsola von der konservativen EEP-Fraktion. Alle Fraktionen des EU-Parlaments sind darin vertreten – und die Mitglieder finden deutliche Worte. Der Bericht lese sich wie eine Abrechnung mit Leggeri und «zeichnet das Bild eines Direktors, der sich für die Einhaltung von Menschenrechten an den EU-Aussengrenzen kaum interessiert und alles tut, um Verstösse zu vertuschen», fasst zum Beispiel der «Spiegel» zusammen.

So steht etwa im Schlussbericht des Rapports, dass Frontex öffentliche Berichte über Menschenrechtsverletzungen an den EU-Grenzen generell abgetan habe. Weiter habe die Agentur auch auf interne Informationen über mutmassliche Rechtsbrüche nicht angemessen reagiert. Dann folgt die Kritik am Direktor der Grenzschutzagentur. Leggeri habe die Stellungnahmen und Anfragen seiner Grundrechtsbeauftragten und des Konsultativforums ignoriert – sowohl die Grundrechtsbeauftragten als auch das Konsultativforum sind dazu da, dafür zu sorgen, dass Frontex die Rechte von Asylsuchenden achtet. Allem Anschein nach haben diese Kontrollmechanismen – zumindest in diesem Fall – funktioniert. Bis die Meldungen und Stellungnahmen den Frontex-Direktor erreichten, der sie schlichtweg ignorierte.

So habe es zahlreiche Meldungen und Berichte über mutmassliche Rechtsbrüche in der Ägäis gegeben. Trotzdem habe Leggeri nie umfassend erwogen, den Frontex-Einsatz zu beenden. Weiter habe er auch nicht überlegt, wie er die Menschenrechtsverletzungen verhindern könne. Die Vorwürfe der Parlamentarierinnen und Parlamentarier gehen aber noch weiter: «Im Gegenteil, der Exekutivdirektor behauptet weiterhin, dass ihm keine Informationen über Grundrechtsverletzungen bekannt sind.»

«Entsetzlicher Vertuschungsversuch»

Die Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis, in die Frontex involviert war, liefen folgendermassen ab: Frontex-Beamte stoppen Flüchtlingsboote, noch bevor sie die griechischen Inseln erreichen. Sie übergeben die Geflüchteten an die griechische Küstenwache. Diese setzen die hilfesuchenden Menschen anschliessend systematisch auf dem Meer aus. Entweder auf aufblasbaren Gummibooten oder auf Schlauchbooten, in denen sie den Motor entfernt haben. Wie der «Spiegel» berichtet, wenden die griechischen Beamten dabei oftmals Gewalt an: Sie stechen auf die Schlauchboote ein oder schiessen ins Wasser. Bei mindestens sieben solcher Fälle seien Frontex-Einheiten in der Nähe gewesen – oder seien darin verstrickt gewesen.

So zum Beispiel in der Nacht vom 18. auf den 19. April. Frontex zeichnete damals aus der Luft auf, wie die griechische Küstenwache Flüchtlinge auf einem motorlosen Boot aussetzte und wegfuhr, was ein klarer Rechtsverstoss darstellt – und die betroffenen Menschen in Lebensgefahr brachte.

Um die Aufarbeitung dieses Pushbacks habe sich Frontex-Direktor Leggeri selber gekümmert. Allerdings auf seine Art: Gegenüber dem Parlament habe er den Vorfall erst verschwiegen. So habe das Europäische Parlament von Frontex nur das bekommen, was ohnehin öffentlich zugänglich war. Der Direktor berufe sich auf das Urheberrecht, um Dokumente zurückzuhalten, statt seiner Rechenschaftspflicht nachzukommen, steht im Bericht. Und selbst die EU-Kommission von Ursula von der Leyen habe es «in intensiven, langen und andauernden Kontakten» mit Frontex in mehr als einem Jahr nicht erreicht, dass die Behörde tue, wozu sie seit 2019 in Menschenrechtsfragen verpflichtet sei. Die involvierten EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier zeigen sich im Rapport «besorgt über den Mangel an Kooperationsbereitschaft des Exekutivdirektors».

Weiter habe Leggeri den Vorfall vom April nachträglich so eingestuft, dass die Grundrechtsbeauftragte der Agentur nicht mehr beteiligt gewesen sei. So bezieht sich denn auch einer der brisantesten Vorwürfe des Untersuchungsberichts des Europaparlaments auf ebendiese Nacht: Leggeri habe die Grundrechtsbeauftragte persönlich angewiesen, alle Informationen zu löschen, die sie zum Vorfall gesammelt hatte. Das soll aus internen E-Mails hervorgehen, die den EU-Abgeordneten vorliegen. Die Grundrechtsbeauftragte habe zuvor einen «Serious Incident Report (SIR)» erhalten: Mit diesen Meldungen können Beamte, die an Grenzschutzaktionen teilgenommen haben, als Whistleblower auf mögliche Gesetzesübertretungen aufmerksam machen. Leggeri habe die Wichtigkeit des Rapports herabgestuft.

Menschenrechte haben keine Priorität

Anscheinend ist das kein Einzelfall. Wie aus dem Kommissionsbericht hervorgeht, sei die oberste Menschenrechtsstelle von Frontex seit «2017 nicht ausreichend in den Umgang mit SIRs eingebunden» gewesen. Das heisst: Sie konnte kaum eingreifen, um zu verhindern, dass Vorfälle falsch eingestuft werden.

Überhaupt scheint für Frontex – und vor allem für ihren Direktor Fabrice Leggeri – die Einhaltung von Menschenrechten keine sonderlich hohe Priorität zu geniessen. So habe es Leggeri etwa «in schwerwiegender und unnötiger Weise» versäumt, bisher alle mindestens 40 Menschenrechtsbeobachterinnen und -Beobachter einzustellen, die eigentlich die Operationen von Frontex begleiten müssten. Fünfzehn der bisher 20 eingestellten Beobachterinnen und Beobachter hätten zudem nur eingeschränkte Rechte und dürften gar keine Operationen begleiten. Statt die Einhaltung der Menschenrechte umzusetzen, die vakanten Stellen der Beobachterinnen und -Beobachter zu besetzen und diese uneingeschränkt arbeiten zu lassen, forderte Leggeri lieber eine Aufstockung seines eigenen Stabs.

Frontex produziert immer wieder Skandale

Auch wenn die Sachverhalte im Bericht relativ klar sind, ist der Untersuchungsbericht ein politischer Kompromiss. Während Stunden verhandelten die EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier über die genauen Formulierungen. So hätten die Konservativen auf der Feststellung bestanden, dass Frontex die Pushbacks nicht selbst durchgeführt habe – was aber auch gar niemand behauptet hatte. Und auch wenn keine Hinweise gefunden wurden, dass Frontex während Grenzeinsätzen selber Recht gebrochen hat, spricht das die Agentur nicht etwa frei. So fand die Untersuchungskommission Belege dafür, dass bei Frontex-Operationen Grundrechte von EU-Mitgliedsstaaten verletzt wurden. Frontex «versäumte es, diesen Rechtsbrüchen rasch, aufmerksam und effektiv nachzugehen. Im Ergebnis hat Frontex sie weder verhindert noch das Risiko verkleinert, dass es weitere geben wird», so der Bericht.

Trotz des vernichtenden Zeugnisses, das die «Frontex Scrutiny Working Group» zuhanden der europäischen Grenzschutzagentur ausstellt, begrüsst Frontex die Schlussfolgerungen der Untersuchungskommission. Der Bericht habe bestätigt, «dass es keine Belege dafür gibt, dass die Agentur in irgendwelche Menschenrechtsverletzungen verwickelt» sei.

Aber Leggeri steht das Wasser bis zum Hals. Der Linken geht der Bericht zum Beispiel nicht weit genug, sie fordert die Absetzung des Direktors. Wenn er nicht zurücktrete, müsse EU-Kommissarin Ylva Johansson dafür sorgen, dass er entlassen werde. Ausserdem wollen die EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier spätestens bei der Verlängerung von Leggeris Vertrag mitreden.

Denn die Frontex produzierte in der Vergangenheit immer wieder Skandale. So ermittelt zum Beispiel auch die Antibetrugsbehörde Olaf gegen den Frontex-Chef und sein Führungsteam. Bei den Vorwürfen, die Leggeri schwer belasten, geht es um finanzielle Unregelmässigkeiten, Mobbing und um illegale Rückführungen. Kritik kommt auch vom Europäischen Rechnungshof, der die mangelnde Funktionstüchtigkeit der skandalträchtigen Behörde moniert. Weiter veröffentlichte die Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly im Juni ihren Bericht über die Mängel im Frontex-Beschwerdemanagement.

Es braucht Sanktionen

Dazu kommt eine nicht abreissende Flut von Kritik von Nichtregierungsorganisationen, Medien und auch von staatlichen Stellen: Frontex sorge dafür, dass möglichst wenige Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten den Weg nach Europa fänden. Dabei werde gegen geltendes Recht und fundamentale Menschenrechte verstossen. Es geht um unterlassene Hilfeleistung und um sogenannte Push-Backs und Pull-Backs.

All das hat der europäischen Grenzschutzagentur bisher wenig bis nicht geschadet. Weltweit wächst kaum eine Behörde so rasant wie Frontex. Bis 2027 soll sich ihr Budget – gemessen am Startbudget von 2005 – vertausendfacht haben. Der Personalbestand soll weiter aufgestockt werden, ausserdem erhält Frontex in regelmässigen Abständen neue Befugnisse.

Zwar hat das EU-Parlament den Jahresabschluss von Frontex für das Jahr 2019 – unter anderem wegen den laufenden Untersuchungen zu Menschenrechtsverletzungen und wegen angeblichen Lügen über Treffen mit Industrielobbyisten – vorerst nicht genehmigt. Doch das genügt nicht. Wie der neuste Untersuchungsbericht zeigt, macht Frontex was sie will. Sie kümmert sich kaum um Menschenrechte und verletzt ihre Rechenschaftspflichten. Die Einfrierung des Budgets und die Absetzung des Direktors dürfen kaum ausreichen, um diese Missstände zu beheben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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4 Meinungen

  • am 26.07.2021 um 12:11 Uhr
    Permalink

    Dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex machen kann, was sie will, ist typisch für eine Gesellschaft, die sich kollektiv organisiert und toleriert von Verantwortungslosigkeit und Wertefreiheit beherrschen lässt. Das Verhalten von Frontex sehe ich einerseits als Symptom einer zunehmend vor allem sozial kranken Welt, und anderseits als Katalysator für immer noch mehr Kaputtismus: ein Teufelskreis! Mit einer Politik, die statt der Menschlichkeit einer Minderheit von Einflussreichen dient, ist keine Heilung möglich.

  • Portrait_Benno_Beler
    am 26.07.2021 um 12:20 Uhr
    Permalink

    Ob eine Grenzschutzagentur die Grenze schützt (d.h. die Einreise kontrolliert und gegebenenfalls verweigert) ist in dem Falle leider weniger relevant als die Frage, wie das weltweite Elend und die grosse Disparität, welches die Migration überhaupt erst verursacht, gelindert werden kann. Ist es sinnvoller, einen Flüchtling mit 30’000 – 50’000 Franken pro Jahr in der Schweiz zu unterstützen, oder sollte dieser Betrag zur Existenzsicherung von 50 – 80 Menschen in armen Ländern eingesetzt werden? Sollen junge Männer in Europa teuer betreut werden, oder die Millionen von Frauen, Alten und Kinder in den Herkunftsgebieten? Wenn man es aus einer rational-altruistischen Sicht anschaut blendet diese Flüchtlingsdebatte bei uns die wesentlichen Zusammenhänge aus, verschwendet gigantische Mittel an junge gesunde Männer und lässt die wirklich Armen im Stich.

  • am 27.07.2021 um 13:00 Uhr
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    Ich kann mich nur der Meinung von Benno Büeler anschließen. Es wird soviel Geld für die Falschen ausgegeben. Vor Ort wäre die Hilfe viel effektiver.
    Die Infrastruktur muss entsprechend im Heimatland aufgebaut werden.
    Diejenigen, die es schaffen Schlepper zu bezahlen, das ist oft ein kleines Vermögen, bringen nur Probleme und Unzufriedenheit mit. Das nutzt keiner Seite.

  • am 27.07.2021 um 22:08 Uhr
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    @Benno Büeler: Hört sich ja sooo vernünftig/rational und simple an. Warum nur hört niemand auf Ihre bzw. solche Stimmen?
    Warum? Weil die Mehrheit jener, die Ihnen hier zustimmen letztlich weder für das eine (Flüchtlinge hier unterstützen) noch das andere sind (Arme in den Entwicklungsländern unterstützen). Heute sagen die Herren (und – weniger – auch Damen), dass es viel vernünftiger wäre, die Armen gleich vor Ort zu unterstützen … und morgen jammern sie dann, dass man bereits heute viel zu viel (Entwicklungs-)Geld in jene Länder schickt.

    Für diese Herrschaften können letztlich beide der obigen Hähne nicht kräftig genug zugedreht werden bzw. sein. Dafür legen sie sich dann auch umso mehr ins Zeug, wenn es ums Öffnen von anderen geht:
    Der Fluss von Schweizer Waffen in und von Geld aus jenen Ländern. (Geld hin zu unseren Banken und den von uns geschaffenen/betriebenen Steueroasen. («Blut-»)Geld, das nur zu einem geringeren Teil auf die Konten der korrumpierten lokalen ‹Eliten›, jedoch grösstenteils auf jene unserer Konzerne fliesst.)

    Da diese beiden «Flüsse» einem bereichert und gerne möchte, dass diese «schön weiter sprudeln», will man sich lieber nicht vertiefte Gedanken darüber machen, ob hier eine Verbindung zu Fluchtursachen vorhanden sein könnten. Oder?

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