Panoramica Piazza Grande

Das grösste Freiluftkino Europas: die Piazza Grande in Locarno. © zvg

Locarno am Wendepunkt?

Catherine Duttweiler /  Das Filmfestival Locarno schwächelt seit Jahren – punkto Qualität und Publikum. Die Roche-Erbin enttäuschte als neue Präsidentin.

Maja Hoffmann verlor immer wieder den Faden. Was bloss wollte die neue Festivalpräsidentin den knapp 6000 Gästen sagen, die ihren Auftritt auf der Piazza Grande gespannt verfolgten? Nur zwei Aussagen blieben hängen, wie schon zuvor bei der offiziellen Eröffnung in der «Magistrale»: Sie plane einen Strategieworkshop, und sie wolle den Festivaltermin verschieben – denn schliesslich brauchten auch Schauspieler Ferien. Dann folgte «Le Déluge», die Sintflut: die mässige Verfilmung eines apokalyptischen Kammerspiels zur Guillotinierung von Louis XVI. und Marie-Antoinette.  

Über Filme wurde in Locarno auch in den folgenden Tagen weniger diskutiert und geschrieben als sonst, nur Infosperber veröffentlichte in der Schweiz ausführliche Besprechungen der wichtigsten Filme. Maja Hoffmanns ungelenker Auftritt und ihre Verschiebungspläne dominierten die Schlagzeilen – und sorgten bei Filmfans, Hoteliers und Tourismusfachleuten für Verwirrung. Das Festival verschieben? In den Vorsommer oder in den Herbst? Ab wann? Später sagte Hoffmann in Interviews, sie selber mache seit Jahren im August Ferien, denn in ihrer privaten Kulturstiftung in Arles herrsche in den Monaten zuvor Hochbetrieb.
 
Warum nur wurde die Neue, die das Festival nach eigenen Aussagen in den letzten 25 Jahren kaum mehr besucht hat, nicht besser beraten?

Locarno Filmestival Maja Hoffmann
Die neue Präsidentin, Roche-Erbin Maja Hoffmann bei der Eröffnungsfeier am 7. August: Sie muss ihre Rolle noch finden.

Der Auftritt Hoffmanns ist symptomatisch für die steigende Orientierungslosigkeit des traditionsreichen Festivals, das seinen Platz hinter den anderen A-Festivals von Cannes, Venedig, Toronto, Berlin sowie Sundance zu verlieren droht. Zwar hat Locarno in den letzten Jahren laufend neue Kategorien und Nischenangebote geschaffen sowie attraktive Plattformen für Sponsoren entwickelt. Doch in den beiden Hauptkategorien – dem internationalen Wettbewerb und der prestigeträchtigen Piazza Grande – hat das Festival an Bedeutung verloren, punkto Inhalt und Publikum. Noch vor zehn Jahren verfolgten gegen 80’000 Personen die Filmvorführungen auf der Piazza Grande, dem grössten Open-Air-Kino Europas. Dieses Jahr waren es noch 62’000, obwohl kein einziger Abend verregnet und das Festival um zwei Gratisabende erweitert wurde. 

Markanter Rückgang der Buchungen

Faktisch waren dieses Jahr durchschnittlich weniger als 4800 von 8000 Plätzen pro Tag besetzt, wie die Organisatoren bestätigen. Selbst am Wochenende blieben ganze Reihen leer. Auch gesamthaft sind die Zahlen genauer betrachtet schon länger rückläufig. Vor gut zwanzig Jahren verbuchte das Festival unter der künstlerischen Direktorin Irène Bignardi über 175’000 Gäste – dieses Jahr waren es noch 152’000, trotz neuer Kinosäle. Die Veranstalter sprechen in ihrer Medienmitteilung dennoch von einem Publikumserfolg und verweisen bei Nachfragen auf die «technologisch dramatisch verbesserte Fähigkeit, das Publikum genauer zu messen». Zudem würden sich die Zahlen nach der Corona-Pandemie nun langsam erholen.   

Wenig Entdeckungen, fehlende Prominenz

Hauptgrund für den anhaltenden Zuschauerrückgang: In den letzten Jahren misslang der Brückenschlag zwischen künstlerisch überzeugenden und für ein breiteres Publikum attraktiven Filmen, wie es die Festivaldirektor:innen David Streiff oder Irene Bignardi meisterlich beherrschten. Die Vorführungen auf der Piazza Grande bieten längst nicht mehr die Garantie für überraschende Autor:innenfilme oder gelungene Entdeckungen wie etwa der Film «Das Leben der Anderen», der später einen Oscar gewann. Grosse Filmstars wie einst Alain Delon, Isabelle Huppert, Spike Lee, Penelope Cruz, Daniel Craig, Meryl Streep, Harrison Ford oder auch Bruno Ganz fehlen heute, ebenso wie bekannte Regisseure oder Filmpremieren von Jim Jarmusch, Quentin Tarantino, Wim Wenders oder Ken Loach. Die Qualität des Piazza-Programms variiert stark. Tiefflieger des Jahres war der als «romantische Horrorkomödie» beworbene Film «Timestalker». Mangels Alternativen wurde dieses Jahr Erfolgsregisseurin Jane Campion (70) und vor zwei Jahren Altmeister Costa-Gavras (89) mit Leoparden geehrt – sicher verdienstvoll, aber ohne dass die beiden ein neues Werk präsentieren konnten. 

Zur Rechtfertigung bringen Anhänger von elitären Filmen gerne vor, Locarno verfüge als gehobenes Festival halt über ein kleineres Budget als das erst 2005 lancierte und rasch gewachsene Zürcher Filmfestival (ZFF). Das Gegenteil ist wahr, wie die öffentlich zugänglichen Zahlen belegen: Locarno verfügt über 18, Zürich nur über 8 Millionen Franken. Weiter wird wider besseres Wissen von anonymen «Insidern» immer wieder kolportiert, der Auftritt eines international bekannten Filmstars an einem Schweizer Festival koste mindestens 100’000 Franken. Auch dieses Killerargument ist falsch. Die beiden Direktoren Raphaël Brunschwig und Christian Jungen bestätigen auf Anfrage, dass ihre Festivals ausschliesslich Reise- und Hotelspesen übernehmen, und dies höchstens im tiefen bis mittleren fünfstelligen Bereich. Selbst arrivierte Hollywood-Schauspielerinnen und -Schauspieler kämen gerne nach Zürich, weil «der Auftritt vor einer traditionellen europäischen Kulisse wie dem Zürcher Opernhaus bei der Filmlancierung und Oscar-Nominierung hilfreich» sei, sagt Jungen. Eine märchenhafte Kulisse würde zwar auch die kunstvoll beleuchtete historische Piazza von Locarno bieten. Doch die Organisatoren nutzen diese kaum.  

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Solche Bilder lieben Stars und Ihre Regisseure: Sharon Stone 2021 vor dem Zürcher Opernhaus, wo sie den Zürcher Icon Award erhielt.

Vielleicht weil die in den letzten Jahren oft wechselnden Direktionen ein verkrampftes Verhältnis zu kommerziell erfolgreichen Schauspielern und Regisseurinnen haben und kein Beziehungsnetz aufbauen konnten? Direktor Brunschwig beteuert, sein Festival habe «kein Problem mit Starpower». Allerdings wurde dieses Jahr der mit Abstand populärste Stargast, Shah Rukh Khan, nicht vom Festival selber gewürdigt. Er erhielt den «Karriere-Leoparden der Tourismusorganisation Locarno-Ascona», eine komplizierte Bezeichnung, den sich der Geehrte nicht merken konnte, wie er auf der Bühne freimütig gestand; auch er hatte keinen neuen Film mitgebracht. Andere Sponsoren durften weitere Preise verleihen, die ihren Namen tragen: So der Getränkehersteller Campari, das Warenhaus Manor, die Mobiliar-Versicherung oder die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit  (DEZA), welche den äusserst beschaulichen nepalesischen Film «Shambala» auf der Piazza persönlich präsentieren durfte. 

Störende Sponsoren machen sich breit

Überhaupt gewährt Locarno den Sponsoren immer mehr Freiraum. Hauptsponsor Mobiliar hat den höchst erfolgreichen Nebenschauplatz «Rotonda» aufgebaut, eigentlich an einem Unort: in einem zubetonierten Strassenkreisel, in welchem dank einer Sprühanlage und Topfpflanzen erst nach 20 Uhr halbwegs erträgliche Temperaturen herrschen. Der Gratis-Treff mit zahllosen Foodtrucks, Bars und Konzerten bekannter Persönlichkeiten wie Nemo hatte dieses Jahr mit 115’000 Personen fast doppelt so viele Besucher:innen wie die Piazza und zog weitere Musikanbieter an. Die wummenden Bässe der lauten Konzerte, die bis in die umliegenden Gemeinden Ascona, Orselina und Brione zu hören waren, überschallten die Filmvorführungen auf der Piazza Grande und ruinierten die Stimmung in den hinteren Reihen.  

Auch Sponsorin Swisscom konnte ihre Präsenz ausbauen. Sie projizierte auf der Grossleinwand der Piazza erstmals Gesichter von zufällig ausgewählten Zuschauenden, die mit KI verfremdet wurden: mal mit Glupschaugen, Riesenmäulern, Wikingerhut oder mit Vollschleier. Anfangs machten die meisten Opfer erschrocken gute Miene zum bösen Spiel; gegen Ende des Festivals versteckten sich immer mehr von ihnen hinter Fächern und Handtaschen – weil sie nicht als Comics-Figuren oder schluchzende Zuschauerinnen dargestellt werden wollten. Überraschend: Das vermeintlich kommerziellere ZFF bietet den Sponsoren weniger Profilierungsmöglichkeiten als Locarno. In Zürich trägt kein einziges «Goldenes Auge» den Namen eines Sponsors, derweil Locarnos Leoparden mit Firmennamen vermarktet werden.

Filmfestival Locarno
Sauglattismus à la Swisscom: Verdutzte Zuschauer:innen werden gefilmt und mit KI verfremdet.

Maja Hoffmann kann es eigentlich nur besser machen. Dazu braucht es indes keine Verschiebung des Festivals, zumal Anfang August viele international bekannte Schauspieler:innen in der Toscana oder in der Provence weilen und leichter als sonst in die Schweiz zu holen wären. Auch die von ihr vage angedeutete Ausweitung auf zusätzliche Kulturbereiche sollte hinterfragt werden. Locarno müsste stattdessen wieder zum Ort des Diskurses über Filmförderung und Kulturpolitik werden, nachdem das Bundesamt für Kultur dieses Jahr erstmals auf die jährliche Medienkonferenz in Locarno verzichtet hat und entsprechende Veranstaltungen fehlten. 

Für die neue Präsidentin des Festivals von Locarno gibt es also viel zu tun: Weniger wäre mehr, in jeder Hinsicht. 225 Filme wurden dieses Jahr gezeigt, 11 mehr als im Vorjahr. Eine Fokussierung der Hauptkategorien auf klare Zielgruppen drängt sich auf, dazu eine erfolgsversprechendere Verhandlungsstrategie mit den relevanten Verleihern, Regisseurinnen und Schauspielern, passende Deals mit den wichtigsten Sponsoren sowie ganz praktische Verbesserungen fürs Publikum. Dieses musste die Tickets erstmals einzeln auf der Website buchen und per Mail abspeichern, da die Festival-App wegen technischer Probleme nicht aufgeschaltet werden konnte. Auch beim Filmkatalog hatte das Team in der Übergangszeit zwischen Solari und Hoffmann eigenmächtig Einsparungen gemacht, die Inhaltsbeschreibungen auf fünf Zeilen gekürzt und den übersichtlichen Programmflyer samt Stadtplan ganz gestrichen. 

Und die Präsidentin selber? Ihr wünscht man bessere Berater:innen, mehr Präsenz vor Ort und einen Crashkurs in Auftrittskompetenz. Als etablierte Kunstkennerin und erfolgreiche Mäzenin verfügt sie über Fachkompetenzen für substanzielle Auftritte. Ihr geschwätziger Vorgänger Marco Solari hatte 23 Jahre lang mehrere Reden pro Tag gehalten, die immerselben Phrasen gedroschen und übertriebene Komplimente nach allen Seiten verteilt: ans Tessin, an die Sponsoren, an anwesende Wirtschaftskoryphäen und Politikerinnen. 

Ein Hoffnungsschimmer: Diese eitlen Reden wird auch in Zukunft niemand vermissen. 


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Keine
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3 Meinungen

  • am 22.08.2024 um 11:16 Uhr
    Permalink

    Tröstlich: Mit Geld allein kann man Kompetenzen nicht erwerben.

  • am 22.08.2024 um 11:29 Uhr
    Permalink

    Selten so ein destruktiver Bericht auf Infosperber gelesen zu einem Neuanfang in der Kulturszene.
    Frau Duttweiler scheint nicht sehr gelassen zu sein. Frau Hoffmann hat sich erstmals geäussert zu Locarno, hatte vielleicht noch etwas Hemmungen und ist kein Medienprofi. Dies ist aber noch kein Grund diese negataiven Vibes zu verbreiten. Etwas mehr Wohlwollen wäre angebracht gewesen.

  • am 23.08.2024 um 16:24 Uhr
    Permalink

    Im antiken Rom mussten Patrizier ihre Ämter aus eigener Tasche finanzieren; es wurden von ihnen prunkvolle Bauten, großartige Spiele und Investitionen in die öffentliche Infrastruktur erwartet – alles selber zu berappen. Sogar Cäsar, von Haus aus nicht reich, musste sich dafür verschulden. Ich finde es angebracht, dass Reiche und Superreiche solche Festivals aus eigenen Mitteln bezahlen, dann passt auch eine ultrareiche Erbin als Präsidentin für so etwas. Dann findet auch die Kritik über Gelingen und Misslingen auf einer anderen Ebene statt und die Steuerzahler werden geschont.

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