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Viren kennen keine Rassen

Jürgmeier /  Eine Frau setzt sich neben Sie. Stehen Sie auf – um sich vor COVID-19 zu schützen? Bleiben Sie sitzen – um sie nicht zu kränken?

18. Juni 2020

Ich sitze zum dritten oder vierten Mal wieder in einer S-Bahn. Wochenlang war ich nur zu Fuss, mit dem Velo oder gar nicht unterwegs. Noch sind die Züge nicht voll. Ich habe ein Abteil für mich und komme mir mit Maske überängstlich vor. Die Frau, die sich direkt neben eine andere setzt, beide ohne Mund- und Nasenschutz, fällt mir auf. Weil ich seit dem «Shutdown» noch niemanden gesehen habe, die sich zu jemandem in dasselbe, vom Duden für veraltet erklärte Coupé gesetzt. Was würde ich machen, wenn sie ihr Smartphone neben mir zu streicheln begänne? – Das Handy ans Ohr drücken und, in den Äther murmelnd, in den Vorraum stürmen? Mit zusammengekniffenem Hintern zur Toilette stolpern und nicht mehr zurückkommen? Mich ungeduldig vor die Türe stellen, obwohl der Zug erst in zehn Minuten wieder hält?

Aufstehen, kaum hat sich jemand, mit oder ohne freundliches «Isch da na frei?», zu einem gesetzt, ist immer, auch, ein Affront. Selbst wenn der andere sich klammheimlich freut, dass sie mehr Platz bekommt. Es erinnert an die Verweigerung des für gutschweizerisch erklärten Handschlags in Zeiten vor Corona. Bedeutet: Neben so einem wie dir sitze ich nicht. Der mich mit gespreizten Beinen ans Fenster drückt und morgens um sieben einen Burger mit viel Knoblauch verschlingt. Die sich, noch verschlafen, die Nase pudert, die Wimpern tuscht und die Fingernägel lackiert. Sitze nicht neben Betrunkenen, Vor-sich-hin-Plappernden, Tätowierten, Übergewichtigen, Blauäugigen. Wer aufsteht, noch bevor die andere sich’s gemütlich gemacht, provoziert Fantasien. Habe ich Mundgeruch? Tropft mir der Schweiss auf das fremde Kleid? Sehe ich aus wie ein Rechter, eine Linke oder die Mitte? Hat die etwas gegen wandernde Senioren, kichernde Blinde, fröhliche Kinder, verzweifelte GC-Fans, aktive Jodlerinnen? Oder ist der Mann ein prüder SexistHundehasserVolksfeind?

Wie oft hat sie erlebt, dass jemand aufgestanden oder zumindest weggerückt ist, wenn sie sich zu ihm oder ihr gesetzt? Die Frau mit dunkler Haut. Würde ich deshalb sitzen bleiben? Selbst wenn sie zu husten begänne, ohne die Aerosole in die Armbeuge zu pressen? So dass es mich bei einem rothaarigen Urschweizer oder einer braungebrannten Eidgenossin nicht mehr auf dem Sitz hielte? Würde ich neben der Frau, die auch eine im Emmental geborene Bankdirektorin oder eine SVP-Grossrätin der vierten Generation sein könnte, ausharren und mich, möglicherweise, ihren Viren ausliefern? Gerade weil sie «eine Schwarze» ist? Aus Angst, sie könnte mich für einen dieser ungehobelten PatriotenFremdenhasserRassisten halten. Aber, geht es mir durch den Kopf, während sie immer noch in dem entfernten Abteil neben der Frau sitzt, die gelassen in ihrem Buch blättert, warum schreibe ich ihr zu, sie würde alles auf ihre Hautfarbe beziehen? Statt sich durch meine «Flucht» ganz normal gekränkt zu fühlen. Weil wir uns, in diesen Zeiten, alle gegenseitig als Gefahr sehen. Müsste ich ihr nicht, wie allen Walliser Senninnen und Aargauer Kadetten, unterstellen, sie könnte COVID-positiv sein, und das Weite suchen? Gerade um der Gleichheit willen.

Was wäre wenn? – Aber die Frau, die ich als Schwarze erinnere, setzt sich nicht neben mich. Niemand kommt mir, an diesem Tag, zu nah. Alles nur Fantasie. Wie die Vorstellung, Winnetou würde mich, als wir grad so gemütlich am Silbersee sitzen, fragen: «Woher kommst du eigentlich?» «Das weisst du doch», würde ich antworten, «von St. Louis.» Nein, würde er sagen, das meine er nicht, sondern: «Wo bist du zu Hause?» Ich würde erwidern: «Auch das habe ich dir doch erzählt.» Schon lange würde ich in Madison, Wisconsin, leben. Auch damit würde er sich nicht zufriedengeben und nachfragen: «Ich meine – ursprünglich. Woher kommst du ursprünglich?» Geboren, würde ich sagen, bin ich in Salt Lake City, Utah. Er bliebe hartnäckig und würde wissen wollen: «Woher stammt deine Familie?» Aber das «Whiteriver, Arizona» würde er nicht akzeptieren und schliesslich sagen: «Ursprünglich gab es keine Weissen in Amerika.» Auch dieses Gespräch am Silbersee – nur eine Vorstellung. Eine Kopfgeburt. Wie die Denkfigur der Rasse.


Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Keine.

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Eine Meinung zu

  • am 4.01.2021 um 09:18 Uhr
    Permalink

    Unverständliche Melanin Theory über ‹White Fragility› und ‹Black Supremacy›.

    Es besteht ein Konsens, dass das Geschlecht frei wählbar ist, analog dazu die politische Selbstbezeichnung Schwarz / Black. Martin Luther King sprach immer von ‹Negro› und nicht von ‹Blacks›, nicht zu verwechseln mit ‹Nigger›.

    Schwarz / Black ist eine politische Selbstbezeichnung und NICHT die Beschreibung einer Hautfarbe. Um dies zu betonen, schreiben manche Autor_+*Innxn ‹Schwarz› auch als Adjektiv gross.
    Diese politische Selbstbezeichnung ‹Schwarz / Black› wurde in den 1960er Jahren durch die Black Power-Bewegungen in den USA geprägt, welcher auch ‹Weisse› angehör(t)en.

    Dito marxistische ‹Black Lives Matter› oder die PoC (People of Color), ebenfalls eine politische Selbstbezeichnung.

    …. und ursprünglich gab es auch keine ‹Weissen› in Europa, der erste weisse Europäer war der Homo Heidelbergensis. Meine Vorfahren stammen aus Afrika und wanderten in Europa ein.

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