Glosse
Sprachlust: Wir Armen haben nur ein einziges «wir»
Was sind «wir» doch für eine sonderbare Gesellschaft: In einer Buchkritik müssen wir lesen, da lege einer schonungslos «unsere Schwächen frei: diesen Ennui, der uns so oft aus dem Spiegel entgegenschlägt», gepaart mit Narzissmus und Einsamkeit. Obendrein, so weiss ein anderes Blatt, neigen wir «ja dazu, das Leben geistig Behinderter zu romantisieren». Und es weiss auch, «warum uns das Klima nicht mehr interessiert». Das sollte es aber tun, denn eine dritte Gazette enthüllt, «warum wir auf Eis gerne ausrutschen».
Vielleicht rutschen wir auch ungern aus – jedenfalls wird mit dem unscheinbaren Wörtchen «wir» eine Gemeinschaft hergestellt, der gefälligst anzugehören hat, wer das liest. Und wer es geschrieben hat, beansprucht, für diese Gemeinschaft zu sprechen. Manchmal gestützt auf Umfragen, zum Beispiel eine, wonach die Sorge ums Klima gegenüber anderen Sorgen einige Ränge eingebüsst habe. Was noch nichts aussagt über das Gewicht dieser oder jener Sorge und auch keine Aussage über allgemeines Desinteresse am Klima erlaubt. Aber immerhin: «Wir» sind dann jene Gesellschaft, für welche die Umfrage Repräsentativität beansprucht.
Inklusiv oder exklusiv?
Mag sein, dass irgendein Institut auch Ennui, Narzissmus und Einsamkeit gemessen hat, aber darüber sagt jene Rezension nichts. Wahrscheinlicher ist, dass hier jemand von sich auf andere geschlossen hat. «Speak for yourself» wäre auf Englisch die angemessene Zurechtweisung: Rede nur in deinem eigenen Namen. Noch «fremdere» Sprachen sind nötig, um eine Form von «wir» zu finden, die keinen Anspruch erhebt, die Angesprochenen einzuschliessen.
Sprachen, die zwischen «inklusivem» und «exklusivem Wir» unterscheiden, gibt es durchaus: Es sind laut der Internet-Enzyklopädie Wikipedia (gestützt auch auf den Schweizer Linguisten Balthasar Bickel) zwei Fünftel aller Sprachen, und zu finden sind sie in Asien, Südamerika, Afrika sowie am Rande Europas im Kaukasus. Es gibt sogar eine reiche Vielfalt an Bedeutungen von «wir»; je nachdem, ob eine bestimmte oder eine unbestimmte Gruppe von Menschen gemeint ist, oder ob die Angesprochenen dazugehören müssen, können oder nicht können.
Erklären oder vermeiden
Auf Deutsch und in fast allen anderen europäischen Sprachen wird erst durch den Zusammenhang oder durch einen Zusatz deutlich, um welche Wir-Gruppe es geht. «Wir in der Schweiz» zum Beispiel, oder «wir Buchrezensenten». Letzteres wirkt freilich seltsam, wenn das Thema nicht gerade wachsende Bücherstapel auf dem Schreibtisch sind. Wäre man gezwungen, das jeweils gemeinte «wir» näher zu erklären, so würde man sich oft anders ausdrücken. Wir Schreiberlinge täten gut daran, auf «wir» zu verzichten, wenn es nicht um etwas Allgemeinmenschliches geht oder aber um eine ausdrücklich genannte Gruppe.
Die Buchhandlung, die ihren Bestseller-Tisch «Das läsed mir gern» anschreibt, will damit wohl den Kaufsog verstärken. Auf uns paar Kunden, die sich das Gernlesen nicht vorschreiben lassen wollen, kann sie gut verzichten. Das eingangs erwähnte Buch lag ohnehin nicht auf dem Tisch – schade, denn gemäss der Rezension «fühlen wir uns ertappt», wenn wir es lesen, unter anderem dabei: «Unsere dämlichsten wie klügsten Weltzersetzungsorgien gewinnen Form und Gestalt.» Ein Vorschlag zur Güte: Warten wir mit der Weltzersetzung noch etwas zu, denn es gibt so viel Lehrreiches zu entdecken, und sei es nur in der Wikipedia. Zum Beispiel, dass das südamerikanische Quechua viererlei «wir» kennt: je eines, in dem der unausgesprochene Zusatz «ohne dich» oder «mit dir» betont oder unbetont ist. Ach wir Armen, die wir nicht Quechua sprechen!
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch
"Wir Schreiberlinge täten gut daran, auf «wir» zu verzichten, wenn es nicht um etwas Allgemeinmenschliches geht oder aber um eine ausdrücklich genannte Gruppe."
Der Vorschlag klingt gut, aber das Problem folgt auf dem Fuss. Was wäre, wenn die Sportjournalisten nicht mehr schreiben dürften: «Wir Schweizer haben uns im Eishockey WM Silber geholt.» Oder wenn Politjournalisten schreiben oder sagen oder verkünden: «Die 1:12-Initiave kommt bei uns Schweizer nicht durch.» Vielleicht würden dann die heimlichen Mythen «in uns» als Scheinkonstrukte entlarvt. Und wer will das ernsthaft?