Glosse

Sprachlust: Verirrt im Land des Doppelsinns

Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Daniel Goldstein /  «Das ist doch ein Lob!», sagt der Lehrer dem Schüler, der «ganze drei Sätze» geschrieben hat und die Zählung für eine Kritik hält.

Janus hatte den Schirm ausgeliehen. Wie um sein Verhalten zu sanktionieren, setzte Regen ein. Als unser Held die Strasse überquerte, wollte ein Autolenker ihn umfahren. In diesem Moment musste Janus mit seinem Regenschirm kämpfen. Er witterte Morgenluft und nahm ein Schiff. Ganze drei Stunden war es gesegelt, da geriet es bedrohlich in Schieflage. Hier sei eine Untiefe, sagte der Kapitän – bedeutete das Glück oder Unglück?
Eine krause Geschichte: Alles passt wie die Faust aufs Auge. Auch diese Redensart selber: Sie kann laut dem Redensarten-Duden «ganz genau passen» oder «überhaupt nicht passen» bedeuten. Doppeldeutig ist alles, was unserem Janus widerfährt. Hat er seinen eigenen Schirm jemand anderem ausgeliehen, oder ist er mit einem fremden Schirm unterwegs? Ist er unbeschirmt, so ist der Niederschlag eine Sanktion im Sinn von Strafe. Hat er aber einen Schirm bei sich, so kann der Regen seine Vorsorge sanktionieren in Sinn von bestätigen. Je nach Betonung von «umfahren» hat es der Autofahrer auf den Fussgänger abgesehen oder gerade nicht. Je nachdem ist die eine oder die andere Fortsetzung wahrscheinlicher: Hat Janus den Schirm als Kampfmittel benutzt oder hat ihn eine Windbö zum Kampf mit dem Schirm genötigt, also gegen diesen? Wer Morgenluft wittert, bei dem vermuten wir Zuversicht, aber dem Geist von Hamlets Vater kündigte sie an, dass es Zeit zum Verschwinden wurde. (Für diesen Hinweis danke ich einem Teilnehmer der «Wortsuche», die mit wechselnden Themen im «Sprachspiegel» ausgeschrieben wird.)
Januswörter im Lexikon
Hier verlassen wir Janus, ohne zu erfahren, ob «ganze drei Stunden» Fahrt bis zur Untiefe viel oder wenig war, und ob da eine seichte Stelle oder im Gegenteil eine besonders abgründige lag. Wir können den Blick von dieser Gefahr abwenden. Janus kann das nicht, falls er seinem altrömischen Namenspatron gleicht. Der Gott mit vorne und hinten je einem Gesicht ist unter anderem für Türen zuständig. Nach ihm sind auch die Januswörter benannt. Diese Wortart ist wohl in keinem Grammatikbuch zu finden, dafür aber in der Wikipedia. Das Online-Lexikon nennt solche Wörter mit entgegengesetzten Bedeutungen auch Autoantonyme und führt auf Deutsch derzeit 15 Beispiele an.
Dass ein Wort verschiedene Bedeutungen hat, ist eher die Regel als die Ausnahme. Meistens ist aus dem Zusammenhang ohne Weiteres klar, welche gemeint ist – ob zum Beispiel eine Mutter zu einer Schraube gehört oder zu einem Kind, oder ob eine Birne leuchtet oder schmeckt. Just entgegengesetzt sind die Bedeutungen jedoch selten, und auch dann wird aus dem Satz in der Regel sofort klar, was gelten soll. Um Sätze mit solchen Januswörtern doppeldeutig zu verstehen, ist meist etwas guter (bzw. böser) Wille nötig, wie oben. Zuweilen ist die Eindeutigkeit erst in neuerer Zeit verschwunden: «Ganze drei Stunden» habe es jemand ausgehalten, bedeutete früher einen Tadel für mangelnde Ausdauer; heute kann geradeso gut ein Lob für Beharrlichkeit gemeint sein – wie man es früher nur mit «volle drei Stunden» ausdrücken konnte.
Tücken der Übersetzung
Wer mit Übersetzungsprogrammen am Computer seinen Spass haben will, ist mit solchen Wörtern gut bedient. Beim Satz, als Janus die Strasse überquerte, wählte Google für «umfahren» die menschenfreundlichere Variante «to drive around him». Auch Babelfish tat dies, machte aber aus dem Autolenker eine «car bar», als hätte der Wagen eine Deichsel oder Lenkstange. Neulich lud eine Krankenkasse ihre Versicherten zur Women Sport Evasion ein. Kann man dabei dem Frauensport entfliehen, oder darf man ihn befreiend praktizieren? Da waren Englischkenntnisse gefragt; Sprachkurse werden wohl bald kassenpflichtig. Google meint ominös: «Frauen Sport Flucht». Babelfish aber kapituliert und liefert als deutsche Übersetzung: «Women Sport Evasion». Richtig so, denn wenn es unsere Krankenkasse sagt, dann ist es ja wohl schon deutsch, Zweideutigkeit inbegriffen.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 1.04.2014 um 00:49 Uhr
    Permalink

    Unsere Online-Zeitungen sind voll von unbeabsichtigten Zweideutigkeiten. Es fehlt den Redaktoren offenbar die Zeit, ihren eigenen Text zu lesen.
    Da gab es übrigens mal ein altes Rätsel über den Doppelsinn. Ich erinnere mich noch schwach; doch Google sei Dank…

    Wir sind`s gewiss in vielen Dingen, im Tode aber sind wir`s nicht.
    Die sind`s, die wir zu Grabe bringen, doch eben diese sind es nicht.

    Und weil wir leben, sind wir`s eben, im Geiste wie im Angesicht.
    Und weil wir leben, sind wir`s eben – zur Zeit zum Glück noch nicht.

    Die Lösung ist verschieden…

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