Glosse
Sprachlust: Poesie – die fünfte Landessprache
«Si äuä auii ds Lampedusa.» So übersetzt Beat Sterchi den Schluss eines Gedichts von Alain Jaccoud, das 2010 erschienen ist und so beginnt: «Pas de Noirs à Adelboden». Auch «keni Schwarze», oder fast keine, in anderen Tourismusorten, die wie in einer Litanei aufgezählt werden. In seiner lakonischen Schlichtheit passt das Poem gut in die überaus reichhaltige Anthologie «Moderne Poesie in der Schweiz», die soeben im Limmat-Verlag erschienen ist, herausgegeben von Roger Perret im Auftrag des Migros-Kulturprozents (639 S., Fr. 54.-).
Alle vier Landessprachen sind vertreten, die deutsche teils in schriftsprachlicher, teils in mundartlicher Ausprägung, die romanischen immer mit einer Übertragung ins eine oder andere Deutsch, vereinzelt in beide. Dazu kommen Gastsprachen: Albanisch, Englisch, Jiddisch, Friaulisch, Slowenisch – immer in der Schweiz gedichtet oder aus Schweizer Feder. In dieser Vielfalt oder auch nur in den einzelnen Sprachen ist Gemeinsames schwer zu orten. Ein kurzer Schluss – oder ein Kurzschluss – nach dem ersten Augenschein ist, dass die Kargheit des verdichteten Ausdrucks diese Werke des 20. und des 21. Jahrhunderts prägt.
Gesungen und gezeichnet
Das mag auch daran liegen, dass der Herausgeber jegliche schwülstige Heimattümelei beiseite lässt, wie sie zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg ebenfalls zu finden wäre, aber kaum als «modern» gelten könnte. Viel lieber – und wirkungsvoller – öffnet Perret das Blickfeld bis in Grenzgebiete der Sprache überhaupt: dorthin, wo sie mit grafischen oder musikalischen Ausdrucksmitteln verschmilzt. So sind Liedertexte wiedergegeben (viel Bern-Bezug mit Endo Anaconda, Büne Huber, Sophie Hunger, Kuno Lauener, Mani Matter, King Pepe); ebenso Textbilder wie Serge Stauffers Schweizerfahne, auf der anstelle des Rots nur das vielfach wiedergegebene Wort «fett» prangt, oder Kurt Martis «Demokratisches Modell» mit «stimmen» rund ums weisse Kreuz.
Bewusst eingesetzte sprachliche Armut wirkt wie ein Kontrapunkt zur üppigen Lebensweise vieler Landsleute und geht zuweilen mit Anspielungen auf die Aussenwelt einher, wie eben «Lampedusa». Die Ferne, das Reisen sind häufig ein Thema. «La gare est loin, il faut partir», heisst es bei Jean-Georges Lossier, «Ich reise mit der Eisen=Bahn: Von Bern bis nach, Affghanistan» bei Adolf Wölfli, «das Boot überquert eine brüchige Grenzlinie und verschwindet» bei Fabio Pusterla. Annemarie Schwarzenbach denkt an die Wüste und Albin Zollinger daran, «durch China zu trollen». Jürg Halters «Kleines Mittellandwunder» lautet in vollem Umfang so: «Aus der fahrenden Bahn: / die Natur, die Berge // Ich sehe Dörfer / eine Zahnspange, und Pferde».
So Kunst, so Schweiz
Die Frage nach dem Kunstgehalt mancher Werke ist heutzutage ebenso müssig wie jene nach ihrer Swissness. Die Dichterinnen und Dichter, die Aufnahme in die schön gestaltete Blütenlese gefunden haben, sind zum Teil eng verbunden mit den zeitgenössischen Bewegungen ihrer grösseren Sprachräume oder haben diese mitgeprägt wie ein Blaise Cendrars, ein Robert Walser oder ein Eugen Gomringer. Andere Poeten träumten sich aus der Enge psychiatrischer Kliniken hinaus, auch etliche weniger bekannte als Walser und Wölfli. Dass im Buch ein ganzer Chor solcher Stimmen ertönt, lässt an Dürrenmatts Gefängnis-Metapher für die Schweiz denken.
Verspielter als der Landesdurchschnitt, aber von Armbrust-würdiger handwerklicher Qualität sind manche formalen Geplänkel wie Thomas Brunnschweilers Christoph-Blocher-Anagramme («schob herrlich Top») oder Pedro Lenz› Französisch: «T a wü sch e ü dü schü dö frü dü schüra börnua.» Welch ein Beweis: La Swiss eggsist!
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.