Glosse
Sprachlust: Gerechtigkeit für Friede und Wille …
Herr Frieden hatte das Hohe Gericht angerufen, fürchterlich aufgebracht über eine Radiosendung. Da war verkündet worden, mit dem Nobelpreis würden die Leistungen der EU «für Friede und Versöhnung» gewürdigt. Nun hatte sich Herr Frieden längst damit abgefunden, dass ihm die gehobene Frau Friede Konkurrenz machte und beide Wörter im Duden figurierten; er war’s zufrieden, dass dort «Friede» als seltenere Variante hintanstand.
Aber im Akkusativ, darauf beharrte er, habe auch «Friede» ein Schluss-n anzunehmen, und «für» verlange eben diesen Wenfall. Deshalb zog Herr Frieden vor Gericht und nahm sich die bekannte Advokatin Willen. Der beklagten Frau Friede blieb nichts anderes übrig, als sich ebenfalls Beistand zu holen: beim Anwalt Wille. Der kannte natürlich die fast namensgleiche Kollegin seit Langem; er hatte durchgesetzt, dass «Willen», als das Wort überhaupt in den Duden kam, den Vermerk «selten für Wille» erhielt.
Wie viele Frieden?
Da der Duden für das Gericht Gesetz ist, zückte also Anwalt Wille bei der Verhandlung den Band 9 («Richtiges und gutes Deutsch») und zitierte aus dem Kapitel «Weglassen der Flexionsendung»: man schreibe «die Grenze zwischen Affe und Mensch», obwohl der Affe im Dativ (wie im Akkusativ) ein Schluss-n trage, der Mensch gar -en. Diese Endungen lasse man nämlich dann weg, wenn das Wort ohne Artikel oder Adjektiv stehe und «der gemeinte Singular mit dem gleichlautenden Plural verwechselt werden kann». Daraus folgerte der Sprachjurist, beim «Unterschied zwischen Affen und Menschen» denke man an die ganzen Rudel. Und hätte das Radio die EU «für Frieden und Versöhnung» gepriesen, so hätte man sich zumindest fragen müssen, wie viele Frieden da gemeint seien.
Die Sprachjuristin Willen war freilich auf dieses Argument gefasst gewesen, und sie kannte auch die Fortsetzung des Duden-Kapitels: «Wenn keine Verwechslung möglich ist, wird Endungslosigkeit bei schwachen Maskulina eher vermieden», üblicherweise sage man also «zwischen Herrn und Frau Dörr», obwohl bei Fontane «Herr» stehe. Nun sei, so schloss die Anwältin, die Gefahr, «Frieden» für einen Plural zu halten, so minim, dass man sie getrost vernachlässigen dürfe. Bei «Wille» habe der Duden die Mehrzahl bereits als «selten» eingestuft, und bei «Frieden» werde das auch noch kommen.
Vier Meinungen
Das Gericht zog sich zur Beratung zurück und liess sich geraume Weile nicht mehr blicken. Danach wartete es gleich mit drei Meinungen auf. Je eine Minderheitsmeinung gab der einen und der anderen Partei recht, also «für Friede» oder «für Frieden». Die sprachgerichtliche Mehrheit aber befand, die Frage sei juristisch nicht entscheidbar; es sei eine Frage des Stils, ob man mit dem endungslosen Akkusativ klarmachen wolle, dass «der Friede» im Singular gemeint sei, oder ob man mit «Frieden» den Wenfall unterstreiche und offenlasse, ob man die gewöhnliche oder die gehobene Form oder gar eine Mehrzahl meine.
Der sichtlich enttäuschte Herr Frieden erhielt nach der Verhandlung von einer mitleidvollen Richterin den Rat, da es sich um ein «nur» stilistisches Problem handle, könne er ja noch die Meinung der «Sprachlupe» einholen. Er überwand seine Furcht, erneut eine Abfuhr zu erleiden, und fragte tatsächlich an. Und erhielt diesen Bescheid: Von der Wahlmöglichkeit zwischen «der Friede» und «der Frieden» darf man durchaus Gebrauch machen, je nach gewünschter Stilebene. Aber als Akkusativ klingt «für Friede und Versöhnung» zu gestelzt, sogar wenn es um einen Nobelpreis geht, und daher ist «für Frieden» vorzuziehen. Ebenso hätte die Zeitung, die eine Sportlerin «mit Wille und Ausdauer» siegen sah, besser geschrieben: «mit Willen und Ausdauer».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel»; Verfasser der Kolumne «Sprachlupe», alle 14 Tage in der Zeitung «Der Bund».