Glosse
Sprachlust: Geflügelte Worte fliegen weit vom Nest
Es ist auch selber eines: das «geflügelte Wort»: Der Ausdruck stammt von Homer, der ihn oft verwendete, und auf deutsch von seinem Übersetzer Johann Heinrich Voss. Daran erinnert uns der Zürcher Altphilologe Klaus Bartels in seinem neuesten Sammelband: «Geflügelte Worte aus der Antike» (Verlag Philipp von Zabern). Im Unterschied zu «gewöhnlichen» Sprichwörtern sind geflügelte Worte solche, die sich auf einen Ursprung zurückführen lassen, also quasi auf einen Nistplatz, wie sich der Autor mit seiner selbstgewählten Berufsbezeichnung «Ornithophilologe» gern ausdrückt. Er beschränkt sich nicht aufs Aufspüren «ab ovo», vom Ei her, sondern verfolgt auch den meist abenteuerlichen Weg an den «Zitatenhimmel».
Das oft mit einem Augenzwinkern geschriebene Buch beleuchtet 50 Nistplätze samt Zugrouten und fördert dabei mancherlei Überraschungen zutage. So jene, dass vieles aus der Antike stammt, was wir meistens sagen, ohne daran zu denken. Etwa: «Der ‹springende Punkt› ist einem griechischen Exzellenz-Zentrum, dem Forschungslabor des Aristoteles, entsprungen.» Dort wurde beobachtet, wie in einem befruchteten Hühnerei das Herz zu schlagen beginnt. Auch «Schuster, bleib bei deinem Leisten» ist nicht so urdeutsch, wie es klingt, sondern geht auf einen griechischen Maler zurück. Der akzeptierte Kritik eines Schuhmachers am gemalten Schuh, wollte sich beim Bein aber nicht dreinreden lassen: «Nicht über den Schuh hinaus soll der Schuster urteilen.».
Anders gemeint
Ums Urteilen ging es also, nicht ums Werken, wie wir heute meinen. Doch dies ist noch eine vergleichsweise harmlose Umdeutung. «Sit mens sana in corpore sano» war ursprünglich keine Aufforderung, turnend für «einen gesunden Geist in einem gesunden Körper» zu sorgen, sondern eine zum Gebet um diese beiden Gaben. «Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir», hat Seneca als Kritik am römischen Bildungswesen gesagt – und das hat die Lehrerschaft so sehr beherzigt, dass sie den Spruch heute lieber umgekehrt zitiert (und ihm hoffentlich so nachlebt).
Zuweilen lassen geflügelte Worte bei der Übersetzung Federn: Als Cäsar zum Kampf um Rom schritt, soll er ein Dichterwort Menanders auf griechisch ausgerufen haben: «Der Würfel werde geworfen!». In der lateinischen Version «alea iacta est» ist der Imperativ «esto» bereits zur Aussage «est» verstümmelt, und wenn man auf deutsch sagt, «der Würfel ist gefallen», dann unterstellt man Cäsar eine Selbstsicherheit, mit der er damals wohl noch nicht auftrat: Der Würfel fiel zu seinen Gunsten erst in Rom und bei weiteren Feldzügen. Die Gunst hielt bis an jenem Tag an, als er seine letzten Worte an einen seiner Mörder richtete: «Auch du, Brutus.» Sagte er das wirklich? Dazu mehr bei Bartels.
Makabre Münze
Es liegt in der Natur geflügelter Worte, dass sie weiter vom Nest fliegen können, als der Apfel vom Stamm fällt. Zuweilen sehr weit weg: Liest man auf dem Rand des Fünflibers «Dominus providebit» und versteht man es als «der Herr wird vorsorgen», so entspricht das wohl der frommen Absicht der Nationalbank. Aber will sie uns wirklich daran erinnern, was bei der ersten Prägung des Worts geschah? Denn es stammt aus der lateinischen Übersetzung des Alten Testaments, aus der Antwort Abrahams im 1. Buch Mose, als Isaak auf dem Weg zum Opferplatz fragte, wo denn das Lamm fürs Brandopfer («holocaustum») sei: «Der Herr wird (es sich) besorgen.» Das tat er denn auch, wenn auch zu Isaaks Glück nicht so, wie Abraham gemeint hatte.
Wird einem die «Fünfpfundmünze» mit dieser Botschaft zu schwer und zu heiss in der Hand, hält man sich besser an die Devise «carpe diem». Anstelle des wörtlichen, aber erklärungsbedürftigen «pflücke den Tag» legt Bartels für einmal keine seiner eigenen, eleganten Übersetzungen vor, sondern jene von Golo Mann: «Freue dich heut!»
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.