Sprachlupe: Und täglich grüsst die Sprachforscherin

Daniel Goldstein /  Linguistik ohne Scheuklappen: Die Zürcher Professorin Christa Dürscheid präsentiert ihre Beobachtungen zum Deutsch im Alltag.

Haben Sie Lust auf einen Grammatik-Espresso oder ein Wortschatz-Bettmümpfeli? Das eine oder das andere gibt’s Tag für Tag frisch ab akademischer Quelle: von der aus Deutschland stammenden, seit 2002 in Zürich lehrenden Linguistik-Professorin Christa Dürscheid. Sie tischt seit gut drei Jahren auf Twitter kurze Beobachtungen oder Hinweise auf, immer für ein Schmunzeln oder Stirnrunzeln gut. Letzteres droht bereits, wenn man auf der jetzt X genannten Plattform nachschauen will: Sie öffnet sich nur noch, wenn man ihre Datengier ein Stück weit stillt. Etwas diskreter kommt man auf Facebook und Instagram zu den Kalenderzetteln der Professorin, wenn man ihren Namen in die Suche eingibt. Aber die weiterführenden Links, die oft auf den abgebildeten Zetteln stehen, funktionieren dann nicht.

Beim Nachschauen am 27. 11. bin ich sogleich auf die Bekräftigung «genau» gestossen. Dass man die nun auch zu sich selber sagt, war mir bereits aufgefallen («Sprachlupe» vom 29. 7.). Jetzt aber lerne ich, dass man im Gespräch «ein anderes Wort braucht, wenn man explizit zustimmen will: *absolut*». Und ich sehe den abgebildeten Anfang einer wissenschaftlichen Arbeit von Peter Auer mit dem Titel «Genau! Der auto-reflexive Dialog als Motor der Entwicklung von Diskursmarkern». Anklicken hilft hier nichts, aber wer sich vom Titel nicht abschrecken lässt, gelangt mithilfe einer Suchmaschine zum Gratis-PDF. Wer’s kürzer mag, klickt oberhalb des Bildes in den Text und findet den Kommentar von «DvH»: «das regt mich jedesmal auf – ICH KRIEG SO’N HALS, WENN JEMAND ‹GENAU› ZU SICH SAGT – ALS SATZTRENNZEICHEN!!!»

Bis dass der Rhein uns scheidet

«So’n Hals kriegen» – das wäre ein Fall für Dürscheid, denn mit fachkundigen Ohren achtet sie darauf, wie in verschiedenen Gegenden geredet wird. Die Redensart «einen (dicken) Hals bekommen» für «wütend werden» ist weit verbreitet – aber kaum in der Schweiz. Bei kurzem Zurückblättern im Kalender der Professorin stosse ich zwar nicht auf dieses Beispiel, aber auf eine dicke Wolke von Wörtern, die sich auf der Nordseite des Rheins stauen:

Dürscheid schreibt dazu: «Es gibt Wörter, die vorwiegend in Deutschland verwendet werden. Viele davon kommen auch in Romanen vor, die in der Schweiz bzw. Österreich spielen und von Schweizer bzw. österreichischen Autorinnen und Autoren verfasst wurden. Warum? Sind solche Wörter hier nicht fehl am Platz?» Die Frage verstehe ich rein rhetorisch, zumal ich gerade den Krimi «Wölfe in Bern» lese. In dieser Stadt gibt’s angeblich «Bürgersteige». Anders als in der abgebildeten Zufallsplatzierung zeigt das Digitale Wörterbuch (dort rechte Spalte), dass Bürgersteige vor allem weiter im Norden zu finden sind; im Süden und in Österreich sind es oft Gehsteige. Trottoirs allerdings sind ausserhalb der Schweiz und Süddeutschlands selten geworden. Der kleine Copyright-Hinweis unten in der Abbildung führt mit einer Suche zur Information, dass die Autorin Bettina Rimensberger an einer Dissertation arbeitet: «Diatopische Variation in der Belletristik. Schweizer und österreichische Texte der Gegenwartsliteratur im Vergleich». «Diatopisch» bezieht sich auf geografische Streuung.

Ihr Zeigfinger mahnt nicht, er zeigt

Regionale Besonderheiten gibt’s nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der Grammatik. So erklärt sich Dürscheids X-Name @variantengra, der sich zu «Variantengrammatik» entfaltet. Das war ein internationales Projekt, dessen Schweizer Beitrag Dürscheid betreute. Herausgekommen ist ein Online-Nachschlagwerk, das über viele strittige oder unklare Fälle Auskunft gibt: Gehört eine bestimmte Ausdrucksweise irgendwo im deutschen Sprachgebiet zur Standardsprache, ist sie also z.B. in nicht mundartlichen Zeitungstexten akzeptiert? Die Antworten übersteigen meist Twitterlänge, aber einige Beispiele finden sich auch in jüngeren X-Einträgen, so am 11.11.: «‹Ende Monat›? In der Schweiz und in Liechtenstein ist diese Konstruktion vollkommen unauffällig (analog zu: Ende Mai).» Wer mehr dazu wissen will, wird in der Variantengrammatik fündig.

«Unauffällig» ist ein Stichwort dafür, wie Dürscheid an regionale Unterschiede herangeht: beobachtend, nicht beurteilend oder gar belehrend – und schon gar nicht mit der auch hierzulande verbreiteten Ansicht, nur «so wie in Deutschland» sei es richtiges Deutsch. Anlass, «so’n Hals zu kriegen», bieten ihre täglichen Sprachgrüsse nicht – aber oft dazu, sich am Kopf zu kratzen, denn nicht selten steht da eine Frage, auf die man die Antwort selber suchen muss. So am Anfang meiner Stichprobe: «Was verstehen Jugendliche unter mausig?» oder «Wie sprechen Kinder ihre Großeltern an? Mit Oma, Opa, Grosie, Großpapi?». Da steht immerhin ein Link, aber er führt nicht zur Antwort, sondern zu einer Abhandlung über andere Aspekte der Anreden in Familien. Und man weiss dann, wen man fragen müsste.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 3.12.2023 um 10:46 Uhr
    Permalink

    Das haben wir früher (vor 50/60 Jahren) auch gesagt: „Machsch en dicke Hals?“
    Meine Enkelin, Zweitklässlerin, spricht trotz Schweizer Eltern, Grosseltern, Urgrosseltern… perfektes Hochdeutsch, auch in der Aussprache, wahrscheinlich abgehört von einem deutschen Klassengspöhnli. Auf Nachfrage weiss sie ohne zu zögern die entsprechenden Dialektwörter. Der vierjährige Bruder sagte letzte Woche: „das isch en Scherz – aber das säged mir nöd“ und schob gleich nach, „mir säged en Witz“.
    Dürrenmatt in Romulus der Grosse wird korrigiert, es heisse „Frühstück“, nicht „Morgenessen“. Dürrenmatt bleibt bei seiner Wortwahl: „Das Morgenessen! Was in meinem Hause klassisches Latein ist, bestimme ich.“ Das ist wunderschön auf den Punkt gebracht.

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