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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: «Sollbruchstellen», die nicht brechen sollen

Daniel Goldstein /  Aus dem Techniklexikon ausgebrochen, macht ein missverstandenes Schlagwort in vielen Medien Karriere.

Was Wunder, ist die Welt aus den Fugen: Allüberall klaffen angebliche Sollbruchstellen. Wie ihr Name eigentlich sagt, sind solche Stellen dazu da, just dann zu brechen, wenn sie sollen. Aber in jüngster Zeit heissen oft auch Stellen so, deren Bruch niemand eingeplant hat. Oder etwa doch, verschwörerisch? Derlei Theorien liegen indes jenen deutsch­sprachigen Publikationen fern, aus denen die Beispiele in dieser «Sprachlupe» stammen. Am häufigsten bieten die spannungs­reichen Koalitionen in Deutschland und Österreich den dortigen Medien Anlass, Sollbruchstellen zu orten – samt der Diagnose, welcher Kitt sie bisher zugekleistert habe.

So ein Kitt war demnach die Pandemie, aber nicht einmal die war vor einer eigenen Sollbruchstelle sicher, nämlich der «Meldekapazität». Gemeint war nicht, diese Kapazität könnte durch ihre Grösse Covid zu Bruch bringen, sondern umgekehrt, der Mangel an Meldungen könnte die Bekämpfung scheitern lassen. Als wäre das nicht schlimm genug, lässt die Pandemie auch noch «individuelle Sollbruchstellen» hervortreten. Da greift eine Kabarettistin zu und legt «Sollbruchstellen des Mannes» bloss. Der ist vielleicht selber schuld, denn: «Man sitzt zu viel, dadurch verändert sich der Körper, es kommt zu Problemen – gewissermassen angezüchteten Sollbruchstellen im System.»

Von Weltpolitik bis Wasserschaden

Zurück zur Welt im Grossen: «Die Sollbruchstelle verläuft heute entlang historischer Narrative», tut ein Wissender über die Ukraine kund. Ein anderer vermeldet am Vorabend des russischen Angriffs, was der deutsche Kanzler Scholz in Washington tut: Er «beschwört die Einigkeit mit den USA, lässt aber eine Sollbruchstelle vermuten» – in Form der neuen Unterwasser-Gasröhre aus Russland, die er zum Missfallen der USA noch nicht aufgeben mag. Nach dem Angriff erledigt sich das Thema, bald auch handfest mit der Sprengung der Pipeline. Eine der Thesen über die Täterschaft lautet, da habe es tatsächlich eine Art Sollbruchstelle gegeben, in Form vorbereiteter Sprengladungen. Die hätte dann jemand vorsorglich für einen – hier politischen – Notfall eingebaut.

Denn eine richtige Sollbruchstelle tritt nicht einfach von selbst auf, sondern sie ist mit Vorbedacht eingerichtet worden. Ein Schweizer Fachmann erklärt, «jeder Hydrant habe genau für den Fall, dass jemand in ihn hineinfährt, eine Sollbruchstelle. Knickt der Hydrant an dieser Stelle, wird die Wasser­leitung nicht beschädigt, sodass gar kein Wasser austritt.» Andernorts kann gerade das Hineinfahren vorgesehen sein, so beim Steckenbleiben zwischen Barrieren: «Der Mann hätte durch die Schranke fahren sollen. Diese hat Sollbruchstellen, die erlauben, wieder von den Gleisen zu kommen.» Auch bei Dämmen gibt es das, damit das Wasser an einigermassen geeigneten Stellen austritt: «Es handelt sich um eine sogenannte Sollbruchstelle, um grössere Schäden zu vermeiden.»

Die sogenannte ist eine echte

So weit sind wir also schon: Da muss eine echte Sollbruchstelle zur «sogenannten» erklärt werden, wie wenn sie diesen Namen nicht verdient hätte. Oder, wahrscheinlicher, weil «sogenannt» hier einen Fachausdruck einführen soll, als wäre das nötig. Auch nicht fachgerecht erklärt jemand aus der Hotellerie die Reinigung zur Sollbruchstelle, denn «wenn die Zimmer beim Gästewechsel nicht mehr geputzt werden könnten, stehe der ganze Betrieb still». Solche kritischen Stellen verstecken sich sogar in der Bettwäsche: «Auch gefaltet wird nicht mehr ohne weiteres, denn Falten werden mit zunehmendem Alter zu Sollbruchstellen im Gewebe.»

Genug des spöttischen Spiels? Noch nicht ganz, denn selbst wer Perfektion anstrebt, kommt scheints heutzutage nicht mehr ohne geplante Mängel aus: «Der Checkout- und der Bezahlvorgang sind potenzielle Sollbruchstellen eines möglichst nahtlosen Einkaufserlebnisses am stationären Point of Sale.» Wenn da keine Fachkraft spricht! Eine andere bekennt vor einem TV-Wettkochen online: «Ich frage einfach die Mitarbeiter meiner Kontrahenten, wo sie ihre Sollbruchstelle, ihre Achillesverse haben – und dann wird diese bedient.» Vornehm gesagt für: Sie wird angegriffen. Richtig geschrieben, ist Achillesferse ein oft passendes Wort für die Sollbruchstelle ohne Soll; ein anderes ist ganz banal: Schwachstelle.

Weiterführende Informationen

  • Indexeintrag «Modewörter» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3
    In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im heruntergeladenen PDF.
  • Suche auf Daniel Goldsteins Website: sprachlust.ch/Was
  • Quelldatei für RSS-Feed «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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2 Meinungen

  • am 27.01.2024 um 12:47 Uhr
    Permalink

    Danke für das regelmässige Strapazieren meiner Lachmuskeln. Absprung für den nächsten Beitrag?

  • am 27.01.2024 um 22:10 Uhr
    Permalink

    In der Tat: «Wenn da keine Fachkraft spricht! «. Ich habe mich köstlich amüsiert über die Text-Beispiele. Herzlichen Dank an Daniel Goldstein für diesen Artikel.

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