Sprachlupe: Schreckmümpfeli im Mundart-Schlaraffenland

Daniel Goldstein /  Möchten Sie Münz machen, «um es Billett z lööse»? Fragen Sie einen Dialektfan, so korrigiert er: «für/zum». Vielleicht zu Unrecht.

Ein wahres Schlaraffenland für Mundartfreunde hat sich im Internet aufgetan: www.dialektsyntax.uzh.ch. Die Universität Zürich hat die Resultate eines gross angelegten Forschungsprojekts zum Satzbau im Schweizerdeutschen frei zugänglich gemacht: einen Text- und einen Kartenband als PDF sowie eine interaktive Karte. Mit dieser kann man in den Mundartsätzen stöbern, mit denen rund 3000 Teilnehmende in 383 Ortschaften der ganzen Deutschschweiz auf 118 hochdeutsche Fragen geantwortet haben. Bei 83 davon waren Dialektsätze zur Auswahl vorgegeben, bei den andern galt es, selbständig aus dem Hochdeutschen zu übersetzen.

Anschauliche Sprachlandschaft: SADS online (dialektsyntax.linguistik.uzh.ch > Daten erkunden)

Schon das erste Beispiel (siehe Abbildung) hält für mich einen Schock bereit. Der Münzbedarf, «um ein Billett zu lösen», musste mit eigenen Mundartworten wiedergegeben werden. Auf der Resultatkarte lassen sich nun die Antworten lokalisieren, die jeweils einem bestimmten Schema entsprechen. «Für es Billet z lööse», die erste anklickbare Gruppe, produziert eine Fülle grüner Punkte, die aber gegen Osten dünner gesät sind. Die Formulierung mit «für» würde ich in Bern erwarten, selber aber als Ostaargauer «zum es Billjee uselaa» sagen. Die Wortwahl tut hier nichts zur Sache, es geht nur um die Konstruktion mit «zum», und die erbringt eine ähnliche Fülle oranger Punkte, womit nun die ganze Deutschschweiz gut abgedeckt und die Welt noch in Ordnung ist.

Zu viel Vielfalt?

Dann aber folgt das Schreckmümpfeli, denn da steht auch noch «um es Billet (chönne) z lööse». Klickt man das an, so legt sich eine ansehnliche Zahl blauer Punkte über die zuvor gesetzten grünen und orangen. Mit dem Mauszeiger kann man für jede erfasste Ortschaft nachschauen, wie sich dort die Antworten auf die Schemagruppen verteilen. Ein Blick in den Textband (S. 329) zeigt, dass die hochdeutsch wirkende Konstruktion mit «um» doch nicht so verbreitet ist: «fürz» sagen 1146 Befragte, «zum» 954 und «umz» 482. Anschaulich wird das im Kartenband (S. 208): Da ist «um z» als Bruchteil der gesamten Billett-Antworten dargestellt. Weit seltener wurde bei einer Frage nach dem Grund fürs Lichtanzünden «um z läse» angekreuzt; hier war kein Objekt wie Buch oder eben Billett genannt (IV.14).

Frage an die Projektleiterin Elvira Glaser: Springt hier Hochdeutsch in die Mundart über, teilweise begünstigt durch die Aufgabe, einen mit «um … zu» geschriebenen Satz zu übersetzen? Die emeritierte Zürcher Professorin antwortet so: «Die Entscheidung, ob die Variante einzig auf hochdeutschen Einfluss zurückgeht oder ob es eine dialektale Basis gibt, ist nicht ganz einfach. Alle Varianten sind ja jüngere Entwicklungen (nach dem Mittelhochdeutschen); es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass die ‹um … zu›-Variante in bestimmten Konstruktionen (mit Objekt) auch in die Mündlichkeit gedrungen ist. Die heutige Verbreitung dürfte schon zu einem grossen Teil dem hochdeutschen Einfluss und in unserem Fall der Vorlage geschuldet sein. Insgesamt handelt es sich bei diesem Phänomen um ein solches, bei dem die angesprochenen Personen meistens ablehnen, so etwas sagen zu können, wenn man sie explizit fragt, es aber im Verlauf des Gesprächs möglicherweise dann doch äussern.»

Wän meinsch? Dä Maa, dä …

Ein ähnlicher Fall sind die Relativpronomina «der/die/das», die in typischem Schweizerdeutsch durch «wo» ersetzt werden. «Es Auto, woni auch cha zale», wollen beim Autohändler weitaus die meisten Befragten sehen, nur etwa drei Prozent haben den Satz mit «das» angekreuzt (Frage II.20). Doch bei komplizierteren Sätzen holt das Relativpronomen auf: Ein Gesprächspartner wird nur von gut der Hälfte als der bezeichnet, «woni mit em schwätze/ploudere/redu» (II.28; es gab drei Regionalversionen des Fragebogens). Die übrigen Antworten verteilen sich auf «mit dem i schwätze/…» und «mit dem wo …». Dazu steht im Textband (S. 351): «Das Auftreten von Relativpronomina wird allgemein standarddeutschem Einfluss zugeschrieben. (…) Einige Autoren (…) weisen jedoch auf deren grundsätzlich älteren Charakter hin, so dass teilweise auch archaischer Gebrauch vorliegen könnte.»

Auf zwei dieser Autoren, die Berndeutsch-Grammatiker Werner Hodler und Werner Marti, beruft sich auch eine Berner Seminararbeit: «Im Berndeutschen lautet das Interrogativpronomen im Nominativ wär, im Akkusativ verhält es sich etwas komplizierter. Sowohl wär als auch wän sind geläufig. Marti (1985: 106) und Hodler (1969: 262) erwähnen beide wän als alte Form, die kaum noch anzutreffen ist. Unsere Beobachtungen geben aber Grund zur Annahme, dass v. a. durch Dialektsprechende mit häufigem Kontakt zum Standarddeutschen wän durchaus wieder in den Wortschatz dringt. Eine informelle Umfrage mit 10 Befragten lieferte folgendes Resultat: Je etwa die Hälfte der Befragten braucht aktiv wär bzw. wän. Ausnahmslos alle bewerten wär als korrekt. Die meisten stossen sich nicht an einem wän, eine Person reagierte darauf mit Skepsis.»

Unter den Skeptikern wäre bis vor Kurzem auch ich gewesen. Aber dann hörte ich an einer Lesung des Autors Walter Däpp in dessen überaus sattelfestem Berndeutsch: «wän». Und seither bin ich doppelt zurückhaltend, wenn mir etwas als «schlechtes Schweizerdeutsch» vorkommt. Schon fast heimelig finde ich nun in der Dialektsyntax «wän suechsch?», das bei Frage III.2 etwa einen Achtel der «Stimmen» erhielt (weit hinter «wär» mit gut drei Vierteln). Seltsam kommt mir indessen vor, dass im Emmental die Frageform «wäm suechsch» weit überwog. Dort ist offenbar der Dativ auch dem Akkusativ sein Tod.

Weiterführende Informationen

  • Indexeintrag «Schweizerdeutsch» in den «Sprachlupen»-Sammlungen, Abruf bei der Nationalbibliothek: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2.
  • Stichwortsuche und Links funktionieren nur im heruntergeladenen PDF (linke Spalte, ganz unten) oder in der Online-Anzeige bei Issuu (issuu.com/sprachlust).

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 19.06.2022 um 20:34 Uhr
    Permalink

    Spannend! Ich bin auch Dialektfan. Leider ist meine Muttersprache der Zürcherdialekt (beide Eltern waren Stadtzürcher) und nicht der klangvollere Berner- oder Walliserdialekt. Mein Enkelmäitli, das nebenan wohnt, kommt oft vom Kindergarten mit Hochdeutsch nach Hause (obwohl Vater und Mutter ebenfalls Stadtzürcher sind), und ich wiederhole das Gesagte jeweils im Dialekt. Oder sie löst kleine Denkaufgaben, welche aus deutschen Verlagen stammen; dann liefere ich ebenfalls die Dialektwörter nach.
    «Wäm suechsch». Dort ist offenbar der Dativ auch dem Akkusativ sein Tod, nicht nur dem Genitiv sein Tod.

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