Sprachlupe: Reden wie in Hannover? Sinnlos, sich zu quälen!
«Ia Sprescha gibt mia nischt wenisch auf die Neawen.» Diese Beschwerde eines Radiohörers stand schon 1970 in einem «Vademecum für Mikrophonbenützer der Deutschschweiz» (Fritz Schäuffele). Ähnliche Klagen halten bis heute an und werden gelegentlich sogar der «Sprachlupe» unterbreitet statt an SRF gerichtet. Gemäss Vademecum (oder dem neueren Duden «Schweizerhochdeutsch») ausgesprochen, klänge der Satz viel näher am Schriftbild: «Ihr Sprecher …». Wer meint, Hochdeutsch müsse wie im hohen Norden Deutschlands tönen, leidet vielleicht am «südlichen Unterlegenheitsgefühl».
Dieses Gefühl zu bekämpfen, nannte der ehemalige Augsburger Deutschprofessor Werner König eine Aufgabe der Lehramtsausbildung («Wir können alles. Ausser Hochdeutsch. Genialer Werbespruch oder Eigentor des deutschen Südens? Zum Diskriminierungspotential dieses Slogans», in: «Sprachreport» 4/2013). Es gelte bewusst zu machen, «dass es keine wissenschaftlich fundierten Gründe gibt, verschiedene Ausspracheformen als höher- oder geringerwertig zu betrachten».
Goethes Geschmack
Die «Bevorzugung nordwestdeutscher Aussprachevarianten steht im Einklang mit der bis heute verbreiteten Laien-Vorstellung, in Hannover werde das ‹beste Hochdeutsch› gesprochen», schreiben im neuen Buch «Standardsprache und Variation» (Narr Starter) die Sprachwissenschafter Christa Dürscheid (Universität Zürich) und Jan Georg Schneider (Koblenz). Die «Idee einer nordwestdeutschen Überlegenheit» bei der Aussprache finden sie nicht erst bei Theodor Siebs und seinem Standardwerk «Deutsche Bühnenaussprache» (1898): «Dass sich hierbei die nordwestdeutschen Aussprachevarianten (…) mehrheitlich durchgesetzt haben, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass schon früh einflussreiche Theatermacher wie Goethe diese subjektiv bevorzugten und sich für sie stark machten.»
Vielleicht deshalb liess der Frankfurter Meisterdichter im «Faust» sein Gretchen, bevor es in Ohnmacht fiel, nicht mehr nach dem «Fläschgen» verlangen wie im «Urfaust», sondern nach dem «Fläschchen». Ob geschrieben oder gesprochen: Das Deutsche kennt regional unterschiedliche Ausprägungen. Es ist – nach in der Wissenschaft kaum noch bestrittener Auffassung – eine plurizentrische Sprache, mit Deutschland, Österreich und der Schweiz als Hauptzentren, die je eine eigene «Varietät» pflegen. Je nach Land gelten in Wortschatz, Grammatik und eben auch Aussprache oft unterschiedliche Varianten, ohne dass eine «richtiger» wäre als die andern.
Wissenschaftliche Einführung
Dürscheid und Schneider liefern dazu die theoretischen und historischen Grundlagen in ihrem Einführungswerk, das für Hochschulen und höhere Gymnasialklassen gedacht ist. Sie zeichnen nach, wie sich etwa der Duden für Varianten geöffnet hat, aber mit einer gewichtigen Einschränkung: dass nämlich «das ‹deutschländische› oder ‹Binnen›-Deutsche in der Regel gar nicht als Varietät, sondern als neutrale, unmarkierte Grundform des Standarddeutschen wahrgenommen wurde; die österreichischen oder schweizerischen Merkmale dagegen wurden als Abweichungen davon gekennzeichnet».
Für die beiden Linguisten ist es «wichtig, dass das geschriebene und das gesprochene Standarddeutsch (…) nicht – wie früher die ‹Hochsprache› oder das ‹Hochdeutsche› – als präskriptive, also vorgeschriebene, idealisierte Normgefüge, sondern als Gebrauchsstandards, als Standardvarietäten des Deutschen angesehen werden – als diejenigen Varietäten nämlich, die wir im Deutschen auch in überregionalen, formelleren Kontexten tatsächlich verwenden und als unauffällig akzeptieren.» Auffällig kann durchaus auch Bühnendeutsch sein, wenn es im Alltag praktiziert wird. Die Autoren wenden sich gegen eine «Standard- und Homogenitätsideologie» und gegen die darauf beruhende «Diskriminierung von Dialektsprechern sowie Sprechern mit regionalem Akzent».
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund». Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.
Deutsch spricht man, wenn andere Deutsche einen verstehen. Hört das auf, ist man in einer anderen Sprache.
955 hat der spätere Otto I Briefe an alle ihm bekannten deutschen Fürsten geschickt. Ihm beizustehen im Kampf gegen die immer wieder plündernd einfallenden Ungarn. Wer den Brief verstand, sprachlich, dann inhaltlich, ist gefolgt. Wer den Brief nicht lesen konnte wurde kein Deutscher.
So einfach ist das. Otto I hat gesiegt und damit begann Deutschland. Die Sprache ist der Kern der Nation. Wer Deutsch spricht, ist Deutscher.
Dass alle Deutschsprachigen einander verstehen, trifft nur zu, wenn sie sich Mühe geben. Wie «Deutschland begann», tut hier nichts zur Sache, doch soll Ihre Folgerung aus dem Brief von 955 nicht ohne Widerspruch bleiben.
Sind Sie sicher, dass alle Fürsten, die die Bitte um Hilfe verstanden hatten, ihr auch Folge leisteten? Was Sie beschreiben, klingt für mich eher wie die Frühform einer Willensnation (des Adels).
Heute ist nach allgemeinem Sprachgebrauch ein Deutscher ein Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Ansicht, es gebe eine darüber hinausreichende «Nation» aller Deutschsprachigen, teile ich nicht.
Die Äusserung von Herrn R. Schrader ist ein Beispiel der germanozentrischen Überheblichkeit, mit der sich manche Deutsche in der Schweiz viele Freunde machen. Wer sich so äussert, vertieft den Graben, der nicht etwa zwischen Deutschland und der Schweiz, sondern zwischen dem germanischen und dem alemannischen Sprachgebiet verläuft.
Doch hier geht es nicht um Nationen, sondern um die Gleichwertigkeit regionaler Ausdrucksformen. Wir Schweizer können uns ein Beispiel nehmen an den Bayern und den Österreichern, die auf ihre eigenen Ausdrucksformen stolz sind und dennoch zu den Regionen deutscher Sprache zählen. Schade, wenn Schweizer meinen, alle Sprachmoden aus Deutschland übernehmen zu müssen.