Sprachlupe: Rätselhafte Kunst im «performativen Setting»
Ich habe etwas geleistet. Jedenfalls glaube ich das, nachdem ich dieser Anweisung im Kunstmuseum Bern gefolgt bin: «Um die Werke zu erleben, muss sich die Betrachter:in bewegen und wird so Teil eines performativen Settings.» Ob ich eine Betrachter:in war, kann dahingestellt bleiben, denn falls nicht, habe ich mich gewiss gleichermassen performativ am Erlebnis beteiligt, einfach ohne zu müssen. So bin ich also einige Meter zwischen aufgehängten, mit Werkausschnitten bedruckten Stoffbahnen hindurchgegangen. Natürlich auch durch den Rest der Ausstellung, dort aber ohne performative Anerkennung.
«Undurchdringliches Geflecht»
Nach erbrachter Leistung mache ich es mir jetzt eine Weile gemütlich und zitiere schlicht aus den Saaltexten: «Die Ausstellung Katharina Grosse. Studio Paintings, 1988-2022. Returns, Revisions, Inventions umfasst Gemälde, die über die Jahre hinweg entstanden sind und diesen zyklischen Ansatz verdeutlichen. Durch diese prozesshafte Methode verschränkt Grosse zunehmend Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so dass unterschiedliche Vorstellungen von erzählter, gelebter und erdachter Zeit untrennbar miteinander verbunden sind.»
«Durch die Verwendung von Schablonen schafft Grosse Leerstellen, die zu aktiven Elementen der Malerei werden und gleichzeitig die Kontrolle der Künstlerin über ihr Blickfeld einschränken. So wie die leeren Flächen grosse Teile eines Werks einnehmen können, schaffen sie zusammen mit den gemalten Schichten auch stark verdichtete Oberflächen, Exzesse oder Maximierungen – sie bilden ein undurchdringliches Geflecht aus intersubjektiven Formen.»
«Ohne konventionelle Hierarchien völlig aufzuheben, aber durch ihre Destabilisierung eröffnet diese Methode der Verschränkung von gemalten Schichten auf und hinter der Leinwand Räume, von denen aus man sich neue Seins- und Wahrnehmungsweisen und alternative Strukturen für soziale Wirklichkeiten vorstellen kann. Durch die Verbindung von Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit wird eine aktive, bewusste und vor allem unbestimmte Zuschauererfahrung mobilisiert, die zu wechselnden Wahrnehmungen und der kontinuierlichen Unterscheidung von Verschiedenheiten anregt.» So weit die Textfragmente aus der Ausstellung.
«Geschliffene Dunkelheit»
Ein boshafter Zufall will es, dass ich zuhause gerade «Wie man schlecht schreibt» von Stefan aus dem Siepen studiere. Da heisst es etwa: «Zu den am häufigsten benutzten Zutaten (Ingredienzien) des schlechten Stils gehört das Fremdwort. Der Philosoph Eduard von Hartmann scheute sich nicht, folgendes zu Papier zu bringen: ‹Alle Relationen, die das bewusste Denken sich diskursiv appliziert, sind nur Reproduktionen explizierter oder Explikationen implizierter oder explizierter Reproduktionen implizierter Bewegungen.›» Zugegeben, die Zitate aus dem Museum weisen eine geringere Dichte an Fremdwörtern auf, aber «intersubjektiv» glaube ich eine gewisse Ähnlichkeit der Gedankengänge wahrzunehmen.
Aus dem Siepen leitet sein Kapitel «Unverständlichkeit» mit einem Zitat des Schriftstellers Ernst Jünger ein: «Ein Kennzeichen höchsten Stils ist die geschliffene Dunkelheit.» Ob das ironisch zu verstehen sei, erfährt man nicht. Um Jüngers Absicht zu ergründen, habe ich die Fortsetzung des Zitats gesucht, und siehe da: «Man gleitet über die Rätsel der Tiefe dahin wie auf Schlittschuhen über einen gefrorenen See.» Das ist ein weiser Rat nicht nur fürs Lesen der Saaltexte im Kunstmuseum, sondern überhaupt für den Besuch der Ausstellung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Vielen Dank, Herr Goldstein, für den Hinweis. Wenn ich mir vorstelle, wie ich mir beim Besuch dieser Ausstellung endlich darüber Klarheit verschaffen kann, wie Schablonen zu aktiven Elementen der Malerei werden und wie durch die Destabilisierung konventioneller Hierarchien im Verschränken von gemalten Schichten auf und hinter der Leinwand plötzlich neue Seins- und Wahrnehmungsweisen sozialer Strukturen denkbar werden, da wird mir warm ums Herz, umso mehr als durch den Prozess performativer Integration sich mir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dermassen verschränken, dass dadurch erzählte, gelebte und erdachte Zeit untrennbar miteinander verbunden werden und dennoch unterscheidbar bleiben.Toll! – Hermeneutik ist wahrlich ein eigenes Geschäft diskursiv applizierter Relationen, die von den implizierten oder explizierten Bewegungen der Künstlerin zu unterscheiden sind, ansonsten man beim Kunstgenuss in Gefahr läuft, auf Schwarzeis auszurutschen.
Ausgezeichnet! Vielen Dank für diesen treffenden und witzigen Artikel. Ein anderes Beispiel in die Richtung nannte vor kurzem die Canard enchaîné mit den performativen Worten des französischen Präsidenten. Performatives Lachen ist nun mal das Beste!
Danke für den Artikel. Ich musste herzlich lachen; mittlerweile sind massenhaft Ausstellungs-, Kunstfilm-, Performancetexte so abgefasst. Solche Texte passen auf alles, weil sie eigentlich auf nichts passen. In den alten Lustigen Taschenbüchern gibt es einige Geschichten, in denen die eitle Kunstszene und ihre Präsentation verarscht wird. Goofy konterkariert derlei geschwollene Beschreibungen mit einem einfachen: «Süß, hat das Ihr kleiner Sohn gemalt?» und wird gleich für einen genialen Kritiker gehalten. Aber es gilt trotzdem: Über Kunst lässt sich nicht streiten. Über die Beschreibungen schon.