Sprachlupe: Dieser Titel hier verspricht nicht zu viel
Viel verspricht dieser Zeitungstitel: «Bevölkerung aktiv gegen Rassismus». Die gute Nachricht kommt als Feststellung daher, nicht etwa als Zitat. Da muss eine wahre Volksbewegung im Gang sein, um dem Rassismus entgegenzutreten. Enttäuschend fällt dann die Lektüre aus, denn der Titel stützt sich auf einen betrüblichen Tatbestand: «Beim Beratungsnetz für Rassismusopfer sind letztes Jahr 708 Fälle rassistischer Diskriminierung dokumentiert worden. Die Zunahme um 78 Fälle zeige eine erhöhte Bereitschaft der Bevölkerung, sich aktiv gegen Rassismus zu engagieren, teilten die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus und Humanrights.ch gestern mit.»
Haben die beiden Instanzen aus der Zunahme der Meldungen um 11 Prozent wirklich geschlossen, da sei eine Volksbewegung im Gang? Dass die Zunahme «eine erhöhte Bereitschaft der Bevölkerung (zeige), sich aktiv gegen Rassismus zu engagieren», steht so in der gemeinsamen Medienmitteilung, welche die Kommission (EKR) veröffentlicht hat. Selbst wenn da nur von Bereitschaft die Rede ist und nicht von Aktivität, scheint mir der Schluss gewagt, denn 78 zusätzliche Fälle sind gemessen an der Bevölkerung von fast neun Millionen doch recht wenig. Zudem könnte es ja sein, dass sich nicht das Meldeverhalten verstärkt hat, sondern die rassistische Aggressivität. Oder keins von beiden, denn laut Vorwort des Berichts sieht die EKR in der Zunahme eher «ein Zeichen dafür, dass die Beratungsstellen sichtbarer und bekannter geworden sind».
Schwalbenfeder macht Frühling
Etwas zuversichtlicher zeigt sich Humanrights.ch auf der eigenen Website: «Die Relevanz des Themas Rassismus nimmt in der Schweizer Gesellschaft stetig zu. Vor allem Fälle von anti-Schwarzem Rassismus und Rassismus gegen als ‹fremd› und/oder ‹ausländisch› gelesene Menschen werden aufgrund der breiteren medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit der letzten Jahre bewusster wahrgenommen und auch häufiger gemeldet. Die Beratungsstellen werden weiterhin überwiegend von direkt betroffenen Menschen aufgesucht. Das Beratungsnetz verzeichnet jedoch auch einen Anstieg an Meldungen von Zeug*innen und Fachpersonen, die indirekt mit Rassismus in Berührung kommen und sich aktiv gegen Rassismus einsetzen. Die Zahlen des Rassismusberichts bleiben im Jahr 2022 in allen Lebensbereichen konstant hoch.»
Von der vermeintlich guten Nachricht bleibt damit nicht viel. Und so ist es oft, wenn ein Titel Aufsehen erregt – was ja eine seiner Funktionen ist, doch sollte die geweckte Erwartung auch einigermassen erfüllt werden. Besonders krass finde ich jene Titel, die aus einem knackigen Zitat bestehen, während die zitierte Person sich auch nicht annähernd so knackig ausgedrückt hat. So entsprang «Trinken ist das neue Rauchen» einer Interviewfrage, ob «Trinken bald genauso out wie Rauchen» sei. Die Antwort von «Nüchternheitscoach» Maria Brehmer: «Es gibt Trendforscher, die tatsächlich behaupten: Trinken ist das neue Rauchen.» Sie sagte es also nicht mit eigenen Worten und vermutlich nicht einmal als wörtliches Zitat.
Zu spitz zugespitzt
«USA zerstörten Nord-Stream, damit Scholz keine Wahl mehr hat.» Auch dieser Titel kam wie eine Originalaussage daher und stand über einem Bericht zur Version des «US-Investigativjournalisten» Seymour Hersh, wonach die USA die russische Ostsee-Pipeline gesprengt hätten. Das Zitat im Text lautete dann bloss: «Das Weisse Haus befürchtete, dass Deutschland und Westeuropa die gewünschten Waffen nicht mehr liefern würden und dass der deutsche Bundeskanzler die Pipeline wieder in Betrieb nehmen könnte – das war eine grosse Sorge in Washington.» Als Kurzfassung des von Hersh vermuteten Tatmotivs mag der Titel angehen, aber ein echtes Zitat ist er nicht.
Die Zuspitzung ist als journalistische Technik beliebt – längst nicht mehr nur bei Boulevardmedien. Dass nun aber weitherum Zitate zurechtgebogen werden, fällt mir vermehrt auf. Ein letztes Titelbeispiel: «ChatGPT funktioniert wie ein Politiker». Gemäss Text sagte Jürgen Schmidhuber, vorgestellt als «Vater der Künstlichen Intelligenz»: «Ich vergleiche ChatGPT und ähnliche Sprachmodelle gerne mit Politikern.» Und er meinte das nur in Bezug auf die Textproduktion: «Politiker können meist gut reden und zu beliebigen Fragen flott druckreife Antworten liefern. Dabei kombinieren sie Parolen, die sie schon in früheren Reden verwendet haben, auf immer wieder neue Weisen, sodass keine zwei Antworten wirklich identisch sind. Oft kommen dabei einfach Plattitüden heraus – und manchmal auch offenkundige Fehler.» Schlimm genug – aber noch kein Grund, statt Politikern ChatGPT in den Bundesrat zu wählen. Hat der Forscher ja ebenfalls nicht gesagt. (Dagegen hat, als diese «Sprachlupe» schon fertig im Vorrat lag, der Satiriker Patrick «Karpi» Karpiczenko eine KI in den Bundesrat befördert: im «Kulturtipp».)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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