Sprachlupe: Die Sprache kehrt nicht zu Tarzan zurück

Daniel Goldstein /  Mit den Sprachen geht es, so wird seit je geklagt, immer nur bergab. Warum sind sie überhaupt noch da? Ein Buch nennt gute Gründe.

«Das, was man Aufbau nennt, kommt nur […] durch einen Verfall zu Stande, und das, was man Verfall nennt, ist nur die weitere Fortsetzung dieses Prozesses.» Diese fernöstlich anmutende Weisheit hat 1880 der deutsche Gelehrte Hermann Paul als eines seiner «Prin­cipien der Sprachgeschichte» aufgeführt – im Kontrast zum linearen europäischen Geschichtsbild, das in Bezug auf die Sprache fast immer in ein Lamento über deren Verfall mündet. Antworten auf die Frage, warum nach Jahrhunderten des angeblichen Niedergangs die (europäischen) Sprachen noch immer nicht zu unverständlichen «Grunzlauten» verkommen sind, hat der in England lehrende israelische Linguist Guy Deutscher gesucht.
Paul ist der früheste Vorläufer, den Deutscher für seine Kernthese zitiert: Neben dem augenfälligen Wandel, der vielen als Verfall vorkommt, erleben Sprachen laufend auch aufbauende Veränderungen, nur weniger offensichtliche. Sein 2005 auf Englisch erschiene­nes Buch war wohl überhaupt das erste, das diese Sichtweise einem breiteren Publikum darlegte. Unter dem originalnahen Titel «Die Evolution der Sprache. Wie die Menschheit zu ihrer grössten Erfindung kam» ist es jetzt bei C.H.Beck zum zweiten Mal auf Deutsch erschienen (2008 textgleich unter dem Titel «Du Jane, ich Goethe»).

Aus Alt mach Neu

Eine Sprachstruktur wie beim Film-Tarzan vermutet Deutscher in der Frühgeschichte, mit Wörtern für Personen, Dinge und Handlungen. Belegen lässt sich dieser Zustand natürlich nicht. Aber der Autor beginnt bei «Tarzan», um von diesem Stadium aus die mögliche Entwicklung komplexer Wort- und Satzformen zu erklären. So gelangt er zu heutigen Sprachen bzw. ihren klassischen Formen, die im verklärenden Rückblick als vollkommen erscheinen. Noch heute sind solche Mechanismen am Werk und gleichen durch Neubildungen aus, was an Komplexität verlorengeht, wenn sich etwa Beugungsformen abschleifen.
Das anschaulich geschriebene Buch enthält Beispiele aus vielen Sprachen und wahre Detektivgeschichten aus der Erforschung der Sprachgeschichte. Der Übersetzer Martin Pfeiffer ersetzt viele aus dem Englischen geschöpfte Darlegungen durch solche aus dem Deutschen, so beim Lautwandel. Geblieben ist als aktuelle englische Entwicklung etwa das Wort «gonna», oft als nachlässiges «going to» geschmäht, bei Deutscher aber als neue Art gewürdigt, Zukünftiges anzugeben. In einer als Dialog gehaltenen Passage lässt der Autor dazu einen fiktiven Fachkollegen erklären: «Wörter laufen [nicht mit] T-Shirts herum, auf denen ‹Substantiv› oder ‹Verb› steht» – die Wortart ergibt sich aus der Verwendung. Beispiele aus der Reform der deutschen Rechtschreibung wurden nicht aufgegriffen; angeboten hätten sich das neue Adverb «infrage» oder die Präposition «mithilfe».

Perpetuum mobile

Eingehend wird ein viel früherer Zusammenzug geschildert: Im Althochdeutschen «niowiht» ist «ni-eô-wiht» für «nicht ein Wesen» noch erkennbar, im heutigen «nicht» ist die Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten längst vollendet. Diese tritt häufig auf, aber nur in dieser Richtung: Metaphern erstarren, bis sie überhaupt nicht mehr bildlich wirken (bei «going to» mag man noch ans Schreiten denken, bei «gonna» kaum). Und so erwacht das Bedürfnis, dürre Wörter wieder auszuschmücken; der englische Zusatz «at all» wird genannt. «Nicht die Bohne» wäre ein deutsches Beispiel, vielleicht dereinst «nibohn».
Neben der Ökonomie (Abschleifen, Zusammenziehen) und der Expressivität (Ausschmücken) nennt Deutscher die Analogie als dritte Hauptkraft des Sprachwandels. Sie kann komplizierte Bildungen wie das semitische Verbsystem erklären, aber auch Details. So hat das dank einem Beatles-Film verbreitete «grotty» (aus «grotesque») zur Rückbildung «grot» für «Dreck(-Ware)» geführt. Auch da hätte sich ein Seitenblick ins Deutsche angeboten: «grottenschlecht» könnte entlehnt sein; es weist zudem auf den Ursprung von «grotesk» zurück. Sprache als Kreislauf: Die Idee hat ihren Reiz, im Kleinen wie im Grossen.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 23.02.2019 um 17:18 Uhr
    Permalink

    Das kommt vom Gerede, undifferenziert, unqualifiziert über DIE Sprache,
    ob gesprochen, gehört oder geschrieben, gelesen. (siehe Selbstreferenzialität)

    Ob Mitteilungen unter Menschen zu trauen ist, besonders bei schwer verständlichen und/oder metaphysischen Sachverhalten, ist viel eher zutreffend zu beurteilen, wenn einem ein Sprecher direkt gegenüber steht, wie ein Zeuge vor Gericht.
    Im Geiste und den Überlegungen von Wittgenstein als Richter, wird ein viel differenziertertes Urteil gesprochen.
    Es dürfte nicht der Modell-Vorstellung eines dt. Kreislaufes entsprechen, sondern eher einem Schweinezyklus, wobei dem Preis der Schweine, Bedeutungen und Zusammenhänge Sinn in und mit Teilen der einzelnen Sprachfamilien entsprechen.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...