Sprachlupe: Das «ungerechte» Prozent, das es in sich hat
Leserinnen und Lesern, Zuhörern und Zuhörerinnen fällt der Verzicht aufs generische Maskulinum nicht auf. So formuliert, ist die Behauptung einigermassen kühn, denn die Paarnennungen sind nicht zu übersehen. Sie aber sind es, die dieses Beispiel «gender-inclusive» machen – also so, dass keine grammatisch männlichen Formen verwendet werden, wenn auch Leute anderen Geschlechts gemeint sein können. Eine Untersuchung von Pressetexten aus Deutschland legt indes den Schluss nahe, gendern gehe auch «unaufdringlich». So sagt gleich der Titel: Less than one percent of words would be affected by gender-inclusive language in German press texts – es müssten also weniger als ein Prozent der Wörter in «nicht-inklusiven» Texten geändert werden, um diese «inklusiv» zu machen.
Die Studie, erarbeitet von der Mannheimer Professorin Carolin Müller-Spitzer sowie einer Mitarbeiterin und drei Mitarbeitern, geht von einer oft gehörten Kritik aus: Gender-inklusive Schreibweise mache «Texte zu lang und kompliziert» und erschwere das Erlernen der Sprache. Die Arbeit stützt sich vor allem auf Texte der Deutschen Presseagentur (DPA) aus den Jahren 2006 bis 2020, als mangels entsprechender Richtlinie «nicht schon (bewusst) Gender-inklusiv» geschrieben wurde, und zusätzlich auf drei Zeitschriften. So wurden 261 Texte mit insgesamt knapp 100’000 Wörtern ausgezählt, immer nach dem Vieraugenprinzip.
Mit Scharfblick Änderungsbedarf gesucht
Auf Personen bezogen sich demnach 12,2 Prozent der Wörter, seien es Nomen, Pronomen oder davon abhängige (wie Adjektive); weil aber in etwa in einem Fünftel dieser Fälle die beiden Beurteilungen voneinander abwichen, wurde nur ein Nettowert von 9,45 Prozent berücksichtigt. Und wiederum ein Zehntel dieser Wörter hätte geändert werden müssen, um die Texte Gender-inklusiv zu machen, unter dem Strich 0,95 Prozent. Ich habe keine Angabe gefunden, ob es auch beim Änderungsbedarf unterschiedliche Beurteilungen gab und ob auch da quasi abgerundet wurde.
Seltsam mutet die Feststellung an, in all den Texten sei kein einziges generisches Femininum gefunden worden. Waren denn gar keine Personen als Personen bezeichnet, auch nicht als Geiseln oder Waisen? Dass Koryphäen, Lichtgestalten, Leitfiguren oder Frohnaturen fehlten, mag ja sein. Es kann auch sein, dass solche Feminina in der Studie nicht als generisch betrachtet werden, weil sie keine maskulinen Pendants zum Inkludieren haben. In diesem Fall dürfen auch Maskulina wie (Bühnen-)Star oder (führender) Kopf nicht als generisch angesehen werden. Als Beispiele für generische maskuline Pronomina erwähnt die Studie jemand und niemand, aber es wird nicht gesagt, ob sie zwecks Inklusion ersetzt werden müssen – oder vielleicht nur dann, wenn ein maskuliner Bezug wie jemand, der … folgt. Trotz gewisser Unschärfen: Die Grössenordnung von einem Prozent Änderungsbedarf ist mit der Studie untermauert und dazu kommt noch das Ergebnis, bei einem Drittel der Texte müsste gar nichts geändert werden. «Müssen» natürlich immer bezogen aufs Tilgen der generischen Maskulina – sogar dort, wo klar ist, dass sie sich nicht aufs biologische oder soziale Geschlecht beziehen.
«Unaufdringliche Varianten ohne Genderzeichen»
Was die Sprachlernenden betrifft, steht in den Schlussfolgerungen, mit Gender-Inklusion entfalle die Schwierigkeit, bei jedem Maskulinum zu entscheiden, ob es generisch gemeint sei oder spezifisch, also für männliche Individuen. Wortreicher würden die Texte auch nicht unbedingt, da man viele generische Maskulina «neutralisieren» könne, etwa «Lehrkraft» statt «Lehrer». Es gebe «viele unaufdringliche Gender-inklusive Varianten ohne die umstrittenen Genderzeichen». Die Studie verweist auch auf eine Umfrage der Rundfunkanstalt WDR, wonach viele dieser Varianten breit akzeptiert seien. 2022 erlangten dort Paarnennungen 69 Prozent Zustimmung und Sammelbegriffe wie «Publikum» 63 Prozent. Mehrheitsfähig waren mit 56 Prozent auch noch Gruppenbezeichnungen wie «Studierende» – ob auch für Einzelpersonen, wurde nicht ermittelt und auch nicht, ob künstliche Partizipien wie «Schauspielende» ebenfalls genehm wären und ob nur dann, wenn die namengebende Tätigkeit gerade ausgeübt wird.
Gerade die laut Umfrage beliebteste Form, die Paarnennung, bedeutet in jedem Fall eine Verlängerung und ist in der Häufung auch ermüdend. Zudem schliesst sie Menschen aus, die sich weder als Frau noch als Mann verstehen. Freilich ist diese Technik beim Reden und Schreiben die bequemste, sie lässt sich sogar automatisieren, ob im Kopf oder im Computer. Dabei müsste in jedem Fall überprüft werden, ob durch die separate Nennung von Männern und Frauen keine Falschaussage entsteht – wie bei den Beispielen im Kasten. Mit wenig Aufwand lassen sich meist elegantere Formulierungen finden; oft reicht es, anstelle der Handelnden nur die Tätigkeit zu erwähnen – damit beim Lesen oder Zuhören wirklich nichts auffällt.
«Polinnen und Polen leben in zwei verschiedenen Welten»
Gut gemeint ist manchmal das Gegenteil von gut. Das gilt auch, wenn Männer und Frauen ausdrücklich separat genannt werden; hier einige Beispiele aus Zeitungen oder Radiosendungen:
- «Muslime und Musliminnen gleichbehandeln», das solle Indien bei der Einwanderung. Die Forderung war aber nicht, muslimische Frauen gleich wie ihre Glaubensbrüder zu behandeln, sondern muslimische Einwanderungswillige gleich wie solche anderen Glaubens.
- «Polinnen und Polen leben in zwei verschiedenen Welten.» Könnte ja sein, aber gemeint waren die «Welten» in der Stadt und auf dem Land – je mit einem eigenen Weltbild, das dortige Männer und Frauen mehrheitlich teilen.
- Zur Credit Suisse «hat die PUK mehrere Expertinnen- und Expertenberichte veröffentlicht», die Kommission hätte demnach weibliche und männliche Fachleute separat beauftragt.
Auch das beliebte Abwechseln kann seine Tücken haben:
- «In Mostar gibt es fast alles doppelt. Bosniaken und Kroatinnen haben eigene Universitäten, Strom- und Telefongesellschaften, Gesundheitssysteme, Tourismusbüros.» Und Bosniakinnen sowie Kroaten, haben die nochmals je separate Einrichtungen oder noch schlimmer: gar keine?
- «Besonders oft handelt es sich bei den Tätern um Berufsoffiziere und Unteroffizierinnen.» Während Unteroffiziere und Berufsoffizierinnen offenbar weniger oft Diskriminierung und sexualisierte Gewalt verüben.
Besonders reizvoll ist es, weibliche Formen eigens zu erfinden: «Lockvögel und -vögelinnen». Vielleicht war’s als Scherz gemeint, denn es ging um ein psychologisches Experiment mit Sex-Anmache. Kaum scherzhaft war dies: «Expertinnen und Fachleute». Soll das heissen, nur Männer könnten Fachleute sein? Wenn «Leute» nicht mehr als geschlechtsneutral gilt, verhilft offenbar nur «Person» zur Inklusion, obwohl grammatisch weiblich. Neulich sind mir sogar Ehepersonen begegnet, zum Glück nur akustisch.
Weiterführende Informationen
- Vorurteile gegen gerechte Sprache widerlegt («Frauensicht» über dieselbe Studie)
- Indexeintrag «Geschlechter» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im heruntergeladenen PDF.
- Quelldatei für RSS-Feed «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Fein nuanciert werden hier die Fallstricke aufgezeigt. Sehr gut. Derzeit scheint es mir ein allgemeiner Trend zu sein: Gut gemeint werden zuweilen von nicht Betroffenen die tollsten Vorschläge im Sinne der Betroffenen gemacht sowie vorschnell umgesetzt um dabei unbemerkt neue Probleme (und Betroffene) zu schaffen. Verwirrung allerorten!
Es ist die Frage, ob dieses Rumgeeiere um das generische Maskulinum überhaupt notwendig ist. Ich meine Nein.
Dieses sprachliche Bemühen um das Sichtbarmachen der anderen (aus meiner Sicht besseren) Hälfte der Menschheit verringert nicht im Geringsten die Benachteiligung von Frauen. Denn es hat keinerlei Auswirkung auf das Alltagsgeschehen.
Lesenswert ist der Artikel auf Telepolis «Zur Dominanz des weiblichen Artikels in der deutschen Sprache». Alles Schöne und Liebenswerte in der Sprache hat einen femininen Artikel.
Danke, Daniel Goldstein, wunderbar geschrieben. Nur eine kleine Kritik (Femininum) sei erlaubt: Mit «Lehrkraft» statt «Lehrer» wird das generische Maskulinum nicht «neutralisiert», sondern «femininisiert».
Der Ratschlag, «Lehrer» vermittels «Lehrkraft» zu «neutralisieren», ist aus der Studie zitiert. Auf die Genus-Problematik verweise ich am Schluss des Kastens bei «Person».
Sehr schön und witzig. Danke, Herr Goldstein! Nur kleine Rückfragen resp. Bemerkungen:
– Mir jedenfalls gefällt Lehrperson besser als Lehrkraft (in beiden Fällen übrigens grammatikalisch feminin).
– Wenn ich den Plural meine, sage ich Nomina statt Nomen und Pronomina statt Pronomen. — Oder ist das für Sie zu akademisierend?
– Für Geschmacksfreiheit gibt’s ein lateinisches Sprichwort und zum Genus habe ich mich oben kurz geäussert.
– «Nomina» ist mir nicht zu akademisierend: Ich verstehe es. Korrekt sind beide Pluralformen.
Und was, wenn die Lehrkraft ein Burnout hat, also die Kraft sie verlässt? Gilt dann «Lehrer»?