Sprachlupe: «Collateral» sind nicht Schäden, sondern Menschen

Daniel Goldstein /  Der Kreml weist die Schuld für zivile Opfer in der Ukraine von sich – und zeigt, dass sie ein Teil seines Kriegskalküls sind.

Der Ukraine (und uns) bleibt in den Moskauer Verlautbarungen über die «Spezialoperation» das unselige Wort «Kollateralschäden» erspart. So umschrieben die USA zivile Opfer in Afghanistan oder Irak und suggerierten damit eine bedauerliche, aber unvermeidliche Nebenwirkung der Kriege. So etwas hat Russland nicht nötig: Es greift ja nach eigener Darstellung nur militärische Ziele an und trifft auch nur solche. Ist einmal ein Spital oder ein Theater unübersehbar zerbombt, dann ist sogleich die Begründung zur Hand, da sei Kriegsmaterial gelagert worden oder hätten ukrainische Soldaten Kranke und Pflegende als menschliche Schutzschilde missbraucht.

Dass russisches Militär selber just das wirklich getan hat, geht in mindestens einem Fall aus glaubhaften Berichten Überlebender hervor. Und das grausame Abwürgen der Stadt Mariupol ist auch eine gigantische Geiselnahme, konnte doch längst nicht die ganze Bevölkerung durch die ständig schikanierten «humanitären Korridore» in Sicherheit gelangen – oder nur in eine prekäre Lage: mit Evakuation, vielleicht gar Deportation Richtung Russland.

Kriegsziel und Faustpfand

Die Zivilbevölkerung zu quälen, ist also nicht eine Begleiterscheinung dieses Krieges, sondern eines seiner Mittel. Auch die anfängliche Beteuerung Moskaus, es strebe keine Besetzung an, hat sich als hohl erwiesen. Inzwischen schliesst der Kremlsprecher «die Möglichkeit nicht aus, die vollständige Kontrolle über besiedelte Gebiete zu übernehmen». Wenn es dabei zivile Opfer und Zerstörungen gibt, dann ist – wie Putin schon vor dem Einmarsch sagte – die Ukraine selber schuld. Und nun doppelt er mit der Behauptung nach, dem «Kiewer Regime» sei «das Schicksal seiner eigenen Bevölkerung egal».

Eine Mitschuld weist der Kreml den westlichen Ländern zu, die Waffen liefern: das verlängere den Krieg. Wahrscheinlich trifft das zu, aber als Argument des Angreifers ist es zynisch, denn es bedeutet: Die Ukraine soll ganz im Stich gelassen werden und sich widerstandslos ergeben, dann gibt es auch keine Opfer mehr. Ausser dass dann alle, die unter Russlands Herrschaft fallen, Opfer werden – jedenfalls als Geiseln, ausgesetzt der angekündigten Strafjustiz und «Entnazifizierung». Sie wären dann «collateral» nicht im Sinn von «begleitend», sondern als Faustpfand, was das englische Wort ebenfalls bedeutet – und was die Umzingelten in Mariupol schon sind.


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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 28.03.2022 um 04:28 Uhr
    Permalink

    Goldstein konzediert, dass die westlichen Waffenlieferungen den Krieg wahrscheinlich verlängern, findet dieses Argument aus dem Munde des Angreifers aber zynisch, denn: «Die Ukraine soll ganz im Stich gelassen werden und sich widerstandslos ergeben, dann gibt es auch keine Opfer mehr.»

    Ohne dem Vorwurf des Zynismus widersprechen zu wollen, könnte man einwenden: Ist die bedingungslose Kapitulation wirklich die einzige Alternative zum von Selenski offenbar angedachten Weiterkämpfen bis zum letzten Blutstropfen? Bestünde angesichts der beachtlichen bisherigen militärischen Leistungen der Ukrainer nicht die Chance, diese jetzt – bevor sich der Schraubstock der Invasion weiter schliesst – in Verhandlungserfolge umzumünzen? Gewiss, dies würde schmerzliche Zugeständnisse an den Aggressor erfordern. Mögliches Ergebnis wäre vielleicht eine zwar neutralisierte, aber freie und – warum nicht? – entnazifizierte Ukraine.

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