Sprachlupe: Bitte antworten Sie zeitfern
«Bitte erneuern Sie Ihren Vertrag zeitnah.» Wenn mir sogar eine mit literarischen Dingen befasste Genossenschaft so schreibt, scheint das Wort zeitnah im Olymp der Gegenwartssprache angekommen zu sein, während das schlichte bald in die Niederungen absinkt. Über die Beweggründe derer, die zeitnah vorziehen, mag ich nicht spekulieren – wenigstens ist es ein deutsches Wort und ich bin hier nicht aufgefordert worden, asap zu reagieren. Die englische Abkürzung für «so bald wie möglich» findet nicht selten in baldmöglichst eine unschöne Entsprechung; baldestmöglich wäre logischer, aber auch nicht schöner.
Der heutige Gebrauch von zeitnah ist logisch ebenfalls unbefriedigend: nahzeitig läge näher, angelehnt an recht- und frühzeitig. Ein Gegenstück wie spätzeitig fehlt allerdings, während zeitfern gelegentlich vorkommt, und sei es spasseshalber: «Ich werde zeitnah oder zeitfern reagieren», antwortete ein halbes Jahr vor seiner Wiederwahl der St.-Moritzer Gemeindepräsident Christian Jott Jenny auf die Frage, ob er kandidiere.
Max Frischs zeitnahes Schauspiel
Schon in der fernen Zeit, als zeitnah etwas ganz anders bedeutete als bald, war zeitfern seltener: «Wie zeitfern ist dieser ganze Roman ‹aus der Bismarck-Zeit›!», rügte ein NZZ-Rezensent 1926. Ein anderes Werk erhielt in jenen Jahren das Lob eines «tief durchdachten und zugleich zeitnahen, aus dem Lebendigen geschöpften Buches», und der Film «Hau-Ruck» bekam ebenfalls das damals gängige Prädikat. Die «Schweizer Illustrierte» versprach 1941 den «Abdruck eines zeitnahen, ganz aus der fiebernden Gegenwartsatmosphäre heraus gewachsenen Romans» und redete folgerichtig 1950 von «Max Frischs zeitnahem Schauspiel ‹Als der Krieg zu Ende war›».
Erste Verwendungen des Worts im Sinn von bald fand ich aus den 80-er Jahren; das ist allerdings ohnehin die Zeit, für welche die elektronisch erschlossenen Pressearchive reichhaltiger werden. Welche Bedeutung wann überwiegt, lässt sich nur anhand von Stichproben überprüfen; mir scheint, dass auch hier die Jahrtausendwende eine Scheidemarke ist (wie etwa bei Wissenschafter, Leibwächter oder Versteher). Immerhin wurde damals im Solothurnischen auch noch «ein zeitnaher, vollblütiger Ländler geboren». Gelegentlich kommt die zeitfern gewordene Verwendung von zeitnah noch vor, etwa bei der Verabschiedung einer Aargauer Pfarrerin 2018: «Mit ihrer herzlichen, offenen Art und ihrer zeitnahen Verkündigung setzte sie erfrischende Akzente.»
Der Online-Duden nennt für zeitnah beide Bedeutungen; zeitfern kommt gar nicht vor und stand auch in keinem früheren Band «Rechtschreibung», den ich habe. Dagegen ist das sinnverwandte zeitfremd seit spätestens 1991 verzeichnet. Und in der Ausgabe von 1897, die noch mit 350 kleinen Seiten auskam (aktuell 1264 grosse), finde ich das köstliche zeitspielig samt der Erklärung: (gebildet wie kostspielig); zeitvergeudend. Ob damals bei kostspielig der Beigeschmack «vergeudend» ebenfalls mitspielte, weiss ich nicht. Das Gegenstück zeitsparend finde ich erst 1961, nach der grossen Lücke in meinem Bestand. Wenn etwas viel Zeit benötigt, dann ist es heutzutage zeitintensiv. Wie viel schöner wäre da das zeitferne zeitspielig!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Absolut köstlich und klug geschrieben. Ich verwende «zeitnah» nur ironisch. Wenn ich’s ernst meine, wähle ich «rasch» oder «bald» und wenn ich sauer bin: «sofort». Das ist deutlicher – aber die Angeschriebenen mögen es noch viel weniger.
In meiner vor etwa fünf Jahren begonnenen Sammlung dümmlicher Wörter steht «zeitnah» ganz oben, gleich neben der Tautologie «ich persönlich…». Wobei Tautologien ein Kennzeichen der westdeutschen Sprache sind, in der DDR waren sie nicht üblich. Ich denke da z. B. an «absenken», «nachverfolgen», «zurückerinnern», «austesten», «proaktiv», «aktiver Fußballer», «aufaddieren», «abspeichern», «Fachexperte», «Grundtenor», «Super-Gau» und ähnlichen Blödsinn. Auch dass wir heute «Problemfelder» statt der Probleme haben, zeugt von ziemlicher Dämlichkeit. «Von daher» sagen viele Fußballer, die «deshalb» nicht kennen. Und früher haben sie Chancen herausgespielt, heute werden diese «kreiert». Wir reden nicht mehr miteinander, wir «kommunizieren» nur noch. Auch freue ich mich über «insbesondere», das Wolf Schneider als «bürokratisches Blähwort für besonders, vor allem» bezeichnet hat. Leider machen die Journalisten diese Sprachpanschereien mit. Ich schicke Daniel Goldstein gerne weitere Beispiele.