Sprachlupe: Bichsel war kein Bruddler. Aber war er ein Zausel?
Wie ein Nachruf pries, war er «ein Selbstdenker, den sogar der Stammtisch zu seinen kurvenreichen Gedankenflügen anregen konnte. Ein Stammtischbruddler aber war Bichsel nicht.» Gut möglich, dass der Mitte März gestorbene Schriftsteller wusste, was ein Bruddler ist – und wenn nicht, wäre es auch nicht schlimm gewesen, da er ja eben keiner gewesen sei. Wunder genommen hätte es ihn wahrscheinlich doch, und vermutlich wäre er beim Raten eher auf die richtige Fährte gekommen als ich. Bei der Lektüre meines Leibblatts wanderten meine Gedanken zu Trinkbrüdern, ja Saufkumpanen, die mit allen «frère et cochon» sein wollen.
Nur – wäre es nötig, Bichsel nachsorglich vor so einem Vorwurf freizusprechen? Wohl kaum, also musste ich im Duden nachschlagen. Fündig wurde ich erst in der umfangreicheren Online-Version (duden.de). Da steht zwar Bruddler auch nicht, wohl aber bruddeln: «halblaut vor sich hin schimpfen». Das Verb sei «landschaftlich» in Gebrauch, was hier nicht einfach «auf dem Land» bedeutet, sondern nur in bestimmten Landschaften, also Gebieten. In welchen, kann man im Digitalen Wörterbuch (dwds.de) nachschauen: praktisch nur im Südwesten Deutschlands; die wenigen Schweizer Belege kommen alle aus Basel.
Gedankenflüge ohne Gespräche?
Etwas gelernt, bloss: Wie kam der (aus Deutschland stammende) Schreiber des Nachrufs auf die Idee, wer «halblaut vor sich hin schimpft», könne am Stammtisch in Gedankenflüge geraten? Vermutlich sässe so einer gar nicht dort, sondern gemieden an einem Einzeltisch. Und er wäre bei uns kein Bruddler, sondern allenfalls ein «Pfutteri, der aufgrund seines Dauernörgelns anderen gehörig auf die Nerven geht». Nur ist dieses Zitat aus einer Zeitschriftenkolumne der einzige Fund für Pfutteri in der riesigen Datenbank SMD; das Mundartwort kann in einem schriftdeutschen Text also höchstens Gastrecht erhalten. Es steht denn auch nicht im Duden, nicht einmal im Spezialband «Schweizerhochdeutsch», aber es wäre hierzulande verstanden worden und hätte sogar besser zu einem Stammtisch gepasst als Bruddler. Allerdings hat es der deutsche Kollege schon vor Jahren einmal abgelehnt, sich sprachlich zu «helvetisieren» (es ging um «Vorstände», die in angelsächsischen Firmen tätig seien).
In der Zeitungsausgabe mit dem Bruddler erfuhr ich auch, was man im Stammlokal sonst noch tun könnte: kickern. Wäre das etwa meckernd kichern, sogar keckern wie ein zorniger Fuchs oder Marder? Der Duden belehrt mich: «mit dem Kicker spielen». Um nicht gleich einen leibhaftigen Kicker um ein Spielchen zu bitten, empfiehlt sich weiteres Nachschlagen: Kicker kann auch eine geschützte Marke von Tischfussball bedeuten, also helvetisch und ungeschützt: Töggelikasten. Der steht ebenfalls im Duden, als «schweizerisch» (nur im Band «Schweizerhochdeutsch» richtigerweise «mundartnah»). Dass sein Pendant Wuzeltisch «österreichisch umgangssprachlich» ist, findet man aber nur online.
Spiegelstriche für Entdeckungen
Aller guten Dinge sind drei: Nochmals gleichentags schrieb das Leibblatt über «Spiegelstriche» als Verhandlungsgegenstand. Im Duden ist ein Spiegelstrich ein «waagerechter Strich vor Unterabsätzen» – sieht aus wie ein Gedankenstrich. Unser «waagrecht» lässt das Rechtschreibbuch als Nebenform ebenfalls gelten. Aber Verhandlungen über solche Striche? Dass mit Spiegelstrich auch der ganze «mit einem Spiegelstrich eingeleitete Absatz» gemeint sein kann, muss man fantasievoll erraten oder im DWDS nachschauen. Dort sieht man auch, dass das Wort – egal in welcher Bedeutung – nur in Deutschland in den regional erfassten Zeitungen zu finden ist, und auch dort selten.
Die Zeitungslektüre jenes Tages zeigte gut, dass die Berner Redaktion nicht nur bis nach Zürich vernetzt ist, wo auch schon die sprachliche Enthelvetisierung betrieben wird. Die journalistische Nahrungskette reicht bis nach München. Bayern liegt freilich ebenfalls ausserhalb des Gebiets, in dem man bruddeln findet. Daher schaute ich nach, was aus Bichsels Freispruch vom Bruddelverdacht geworden war. Der Nachruf aus Zürich wurde zwar abgedruckt, aber den vielen Kürzungen war auch das Geschehen am Stammtisch zum Opfer gefallen.
Derselbe Autor bescherte mir zwei Tage später ein Wort, das ich gern in mein Vokabular aufnehme: Zausel – es ging diesmal um eine Romanfigur. Wer beim Raten an (zer)zausen denkt, ist auf der richtigen Spur und findet im Online-Duden: «unordentlicher [alter] Mann». Das DWDS offenbart, dass das Wort vor allem in Ostdeutschland zuhause ist und selten einmal auch anderswo vorkommt, aber nicht in den erfassten Schweizer Quellen. Eine hochdeutsche Entsprechung – allgemein oder schweizerisch – fällt mir nicht ein. Was die Radiolegende Roswitha Schmalenbach einst dem 35-jährigen Peter Bichsel an Privatem entlockte (und SRF jetzt wieder ausgrub), lässt vermuten: Die Bezeichnung Zausel hätte schon damals auf ihn gepasst – und ihm sogar gefallen.
Weiterführende Informationen
- Indexeintrag «Helvetismen/Hochdeutsch» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im heruntergeladenen PDF.
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Zu «Bruddler» schreibt der Leser Hans Jäger: «Aufgewachsen in Buchs SG im Werdenberg kenne ich (Jahrgang 1950) den Ausdruck Bruddler sehr wohl, genauer als Bruttler (Substantiv) oder bruttlen (Verb). Sie waren noch ständig in Gebrauch. In der kleinen Schrift „Pfyffateggel : Jugenderinnerungen an die alte Buchser Mundart“ von Bethli Widmer aus dem Jahre 2005 werden Bruttler und brutteln je einmal erwähnt und zwar in der Bedeutung „vor sich hinreden“. Zitate: „En Uuseriösa isch en Huttli, wer vor si heraredt en Bruttli“ und „Lot ein en Pfusch ab het er ghuttlet, wer vor si heraredt der bruttlet“.»
Vielen Dank für den Hinweis! In einer typografisch etwas anderen Version ist die Schrift «Pfiifateggel!» auf E-Periodica abrufbar: https://doi.org/10.5169/seals-893668