Sprachlupe: Beim Gendern denken soll der Sender

Daniel Goldstein /  Generika braucht die Sprache so dringend wie die Medizin. Muss das grammatische Geschlecht immer das biologische sein, fehlt etwas.

Jetzt haben wir es amtlich: «Die generische Verwendung nur der männlichen Form zur Bezeichnung von Personen verschiedenen Geschlechts ist […] nicht zulässig.» Noch ist der Ukas nicht allgemeinverbindlich, sondern er gilt gemäss neuem Leitfaden der Bundeskanzlei für das, was ich zunächst mittels der drei Punkte im Zitat unterschlagen habe: «in den deutschsprachigen Texten des Bundes». Aber die haben natürlich eine gewisse Vorbildfunktion, zumal ähnliche Regeln mittlerweile auch in vielen Medien gelten. Bei SRF erfahren es Hörerinnen und Hörer tagaus tagein von Sprechern und Sprecherinnen. Und beispielsweise bei Tamedia liest man: «Das generische Maskulinum als Standard wird in den meisten Redaktionen inzwischen vermieden.» (Qualitätsreport).

Die Bundeskanzlei begründet ihre Weisung (und deren Einschränkung auf deutsche Texte) so: «In der deutschen Sprache haben die männlichen Formen von Personenbezeichnungen aufgrund des vermehrten Gebrauchs von Paarformen in den letzten Jahrzehnten ihre generische Bedeutung in vielen Kontexten verloren.» Mit andern Worten: Steter Tropfen habe den Stein gehöhlt. Ausser den Paarformen dienen auch Partizipien («die Wählenden») sowie typographische Zeichen dem «Sichtbarmachen» beider bzw. aller Geschlechter. In der vorherigen Version des Leitfadens wurden sie ausführlicher behandelt und selektiv empfohlen, aber noch nicht vorgeschrieben. Hauptadressaten waren 2009 die «Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesverwaltung, die deutschsprachige Texte geschlechtergerecht verfassen wollen oder sollen».

Verzicht auf Generika hat Kosten

Ob freiwillig oder erzwungen, schafft der Verzicht aufs generische Maskulinum ein neues Problem, denn geniessbare Sprache hat ihre Generika so nötig wie bezahlbare Medizin die ihren. Nach Ablauf der Patente weiter für bereits amortisierte Forschung zu zahlen, ist unnötig teuer, und das Geschlecht von Personen zu erwähnen, wenn es keine Rolle spielt, ist unnötig umständlich. Da im Deutschen das herkömmliche Generikum meistens ein Maskulinum ist, bleibt im Einzelfall ungesagt, ob alle Personen gemeint sind oder nur männliche. Missverständnisse gibt es freilich fast nur dann, wenn man sie will. Aber wer ganz sicher gehen oder betont alle einschliessen will, kann sich an amtliche und andere Leitfäden halten.

Nur sollte man dann die Aussage nicht verfälschen. Am Abend nach der St. Galler Ständeratswahl war am Radio über «Proteststimmen» zu hören: «Jede 13., jeder 13. legte leer ein oder wählte einen unbekannten Kandidaten.» Hatte man wirklich schon herausgefunden, dass der Protestanteil bei beiden Geschlechtern gleich war? Und nebenbei: Erhielten denn keinerlei unbekannte Kandidatinnen ebenfalls Stimmen? Ein ähnliches Doppelproblem weist ein Zeitungsbericht aus der Medizin auf: «Jeder dritte Patient im Psychiatriezentrum Münsingen kam nicht freiwillig dorthin. Er wurde entweder von den Behörden oder einer Ärztin eingewiesen – gegen seinen Willen.»

Wie geht «Männer mitmeinen»?

Da wird «Patient» mühelos als generische Bezeichnung erkannt, und das erspart im zweiten Satz Umstandskrämereien wie «er bzw. sie» und «seinen bzw. ihren». Aber wieso soll immer eine Ärztin und nie ein Arzt die Zwangseinweisung verfügt haben? Weil jetzt auch sie generisch verstanden sein will? Mit einem (vom Maskulinum abgeleiteten) Femininum ebenfalls Männer zu meinen, passt auch der Bundeskanzlei nicht, denn es «lassen sich damit die Anforderungen der Gleichbehandlung von Frauen und Männern in der Sprache nicht erfüllen» (2009). Anders steht es natürlich um allein als Feminina korrekte Wörter wie Person, Lehrkraft, Waise.

Und was taugt das Partizip Präsens? Es passt wenigstens dann, wenn es Leute beschreibt, die gerade tun, was das Verb aussagt. Aber auch da gibt’s Stolpersteine, wie eine Tafel in einem Berner Vorort zeigt: Dort «kann die Baustelle jederzeit als Zufussgehende durchquert werden». Die Baustelle als Zufussgehende? Der möchte ich mal zuschauen! Eine Anweisung in Klammern, «vom Velo absteigen», lässt immerhin erahnen, dass die Umschreibung nicht der Baustelle gilt, sondern den «Radfahrenden». Die könnten auch schlicht «zu Fuss» passieren, aber das sagt man ihnen nicht. Also bitte: Denken beim Gendern! Und das vor dem Senden, nicht nach dem Empfangen.

Weiterführende Informationen

  • «Frauensicht» auf den Leitfaden der Bundeskanzlei
  • Indexeintrag «Geschlechter» in den «Sprachlupen»-Sammlungen, Abruf bei der Nationalbibliothek: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2. Stichwortsuche und Links funktionieren nur im heruntergeladenen PDF (linke Spalte, ganz unten).

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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4 Meinungen

  • am 6.05.2023 um 13:37 Uhr
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    Ich kenne die genauen schweizerischen Bestimmungen und Gesetze nicht, aber inwiefern ist die Bundeskanzlei berechtigt, per Leitfaden Sprachregelungen vorzuschreiben? Müssten da nicht zuerst Befürworter und Gegner des generischen Maskulinums gehört werden? Oder müsste es nicht allen freigestellt werden, welche Pluralregelung sie benutzen möchten? Der Sprachfeminismus trennt Männer und Frauen im Plural, der Genderismus zweckentfremdet Asterisk, Unterstrich und Doppelpunkt, das generische Maskulinum schließt alle ein und keinen aus. Die beiden erstgenannten Methoden entstellen das Satzbild, erzeugen unleserliche Stilblüten («Jede:r ist seines / ihres Glückes Schmied:in») bzw. negiert im der Plural die männliche Form vollständig (Pat:innen, Pilot:innen) – letztlich sind alle Methoden ideologisch und interpretieren; eine Wahrheit gibt es hier nicht. Müsste nicht also die Pluralbildung völlig freigestellt werden?

  • am 6.05.2023 um 15:05 Uhr
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    Wunderschönes und wunderschön analysiertes Beispiel: «Jede 13., jeder 13. legte leer ein oder wählte einen unbekannten Kandidaten.» Einmal mehr: Danke, Herr Goldstein!

  • am 7.05.2023 um 17:30 Uhr
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    Guten Tag lieber Herr Goldstein

    Das «generische Maskulinum» zu verbieten ist tatsächlich der Gipfel des grassierenden und sogar insgeheim frauenfeindlichen Genderunsinns. Damit werden die deutschen Substantive insgesamt vergiftet. Die vermeintliche Sexusbedeutung in jedem deutschen Maskulinum wird unausrottbare Unkräuter in die deutsche Sprache pflanzen. Stilblüten wie diese sind nur eine von vielen möglichen Varianten: Laut VdS-Infobrief von heute Sonntag (7. Mai) hat kürzlich ein deutscher Getränkehersteller einen seiner Durstlöscher in «Durstlöscher:in» umbenannt stellt sie so etikettiert in die Regale der Verkaufsläden.

  • am 8.05.2023 um 11:48 Uhr
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    «Die Baustelle als Zufussgehende? Der möchte ich mal zuschauen!» – herrlich 😉

    (oder muss ich da jetzt frau:herrlich schreiben 🙈)

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