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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Bei andern anders reden und denken lernen (II)

Daniel Goldstein /  Der Blick auf die Zeit hängt von der Sprache ab, ebenso der auf die Natur. Zwei «Fremdblicke» aufs Mal erschüttern das Weltbild.

«Paul Klees ‹Angelus Novus› (fliegt) fünf Tage und fünf Nächte lang seinen Rückwärtsflug in unserem Fruchtland. Für ihn ist, wie in manchen afrikanischen Sprachen, die Zukunft das, ‹was hinter mir liegt›, weil ich es nicht sehe.» Das schrieb ich 2008, als die fragile Zeichnung kurz in Bern ausgestellt war. Sie hing im ausnahmsweise auch nachts geöffneten Zentrum Paul Klee, dessen Adresse nach einem anderen Werk des Meisters «Monument im Fruchtland» lautet. Die sprachlich «hinten» liegende Zukunft hat mich erst in der letzten «Sprachlupe» wieder beschäftigt, im Zusammenhang mit einem Vortrag über unterschiedliche Weltsichten in verschiedenen Kulturkreisen.

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Paul Klee, Angelus Novus, aquarellierte Zeichnung 1920.

In gleicher Hinsicht wird auch bedeutsam, was der Engel sieht, so wie ihn der Philosoph Walter Benjamin im Angesicht des Zweiten Weltkriegs verstand: «Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.»

Eine Kultur, viele Naturen

Bei seinem Vortrag über Weltsichten erwähnte der Schweizer Philosoph Beat Dietschy auch eine Beobachtung des brasilianischen Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro. Der nennt die europäisch geprägte Sichtweise «Relativismus»: Verschiedene Kulturen sehen demnach die Natur unterschiedlich. In der Sicht lateinamerikanischer Indigener aber sei es genau umgekehrt: «eine einzige ‹Kultur›, mehrfache ‹Naturen›». Gemäss diesem «Perspektivismus» sei für alle menschlichen Augen nur eine der vielen Naturen erkennbar: «Auf die gleiche Art wie wir sehen Tiere Dinge anderer Art als wir, weil sich ihre Körper von den unsrigen unterscheiden.» Viveiros de Castro erörtert das kultur- und erkenntnistheoretisch anspruchsvoll (Perspectivismo e multinaturalismo na América indígena; französische Übersetzung).

Vielleicht von Klees Engel inspiriert, verband mein inneres Auge die zwei Sprachbilder: Rückwärtsgang durch die Geschichte und Blick auf eine Vielzahl von Naturen. Da verlief nun durch diese breit ausgedehnte Naturenlandschaft eine Spur, welche die Kultur in ihrer Eindimensionalität (oder Einfalt) gezogen hatte. Auch wenn man nicht wie der verzweifelte Walter Benjamin «eine einzige Katastrophe» sieht, verursacht durch «das, was wir den Fortschritt nennen»: Es lässt sich nicht leugnen, dass dieser Fortschritt bisher mit enormen Zerstörungen einhergegangen ist. Ein Perspektivenwechsel, begünstigt durch Blicke über unseren sprachlichen Tellerrand hinaus, kann dabei helfen, künftigen Verheerungen entgegenzuwirken.

Weiterführende Informationen

  • Aus dem Kulturkreis mit dem Sinn für viele Naturen gibt es von Sebastião Salgado das Foto einer jungen Frau (hier klicken, dann unterstes Bild): Sie ist bei den Yawanawa in Brasilien zeremoniell geschmückt. Sieht sie dasselbe wie der Angelus Novus, dem ihr Bild formal ähnelt?
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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