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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Bei andern anders reden und denken lernen (I)

Daniel Goldstein /  Unterschiede in der Weltsicht verschiedener Kulturen können auch die Sprachen prägen, so bei der Einstellung zum Zeitenlauf.

Die ganz grossen Menschheitsfragen griff der Philosoph Beat Dietschy an einem Vortrag in kleinem Kreis auf: Wie können wir so leben, dass es nicht nur der ganzen Menschheit, sondern auch allen anderen Lebewesen und dem Planeten selber gut geht? Ein Universalrezept legte der ehemalige Zentralsekretär von «Brot für alle» nicht vor, wohl aber einen Weg, der Lösungen näher bringen könnte: den Dialog über solche Fragen auch mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu führen. Dabei treten elementare Unterschiede in der Weltsicht auf, die sich auch im sprachlichen Ausdruck beobachten lassen.

Ein Teilnehmer verwies auf die unter früheren «Entwicklungshelfern» verbreitete Interpretation, da es in manchen Lokalsprachen ihrer Einsatzgebiete kein Futurum gebe, hätten die Leute kaum Sinn für Planung. Ich fühlte mich dabei an eine Episode aus der französischen Kolonialzeit erinnert, auf die ich in meinem Studium gestossen war: Da wurde tunesischen Baumeistern eröffnet, künftig müssten sie vor dem Bauen einen Plan einreichen. Das Amt zeigte ihnen ein Beispiel und erhielt die Antwort, so etwas könne man schon zeichnen, aber dazu müsse man doch zuerst das Bauwerk haben. Das kann man als Mangel an Vorstellungskraft betrachten, aber man muss nicht.

Weil wir hinten keine Augen haben

Man kann hinter der Antwort der Baumeister auch die Idee erkennen, die Zukunft sei das, was wir noch nicht sehen. Bei den Aymara in Südamerika wurde beobachtet: «Wenn sie von der Zukunft sprechen, deuten sie hinter sich, wenn sie von Vergangenem erzählen, zeigen sie nach vorne.» Und in ihrer Sprache «bedeutet ‹qhipa› sowohl ‹hinten› als auch ‹Zukunft›, während ‹nayra› für ‹vorne› sowie für ‹Vergangenheit› steht.» So berichtete 2006 der «Stern» über eine Studie aus der University of California. Die Autoren warnten allerdings vor dem voreiligen Schluss, die Aymara sähen sich im Rückwärtsgang durch die Zeit: Das Sprachbild könnte auch darauf beruhen, dass für sie besonders wichtig sei, was sie mit eigenen Augen sehen.

Der sehr verständnisvolle Theologe Al Imfeld beobachtete in Afrika: «Bantu-Sprachen kennen kein Futurum. Unterdrücker haben afrikanische Menschen kaum in die Zukunft blicken lassen; sie mussten einen Tag nach dem anderen bewältigen.» Doch die Sprache muss vor den Unterdrückern da gewesen sein. An der Uni Regensburg kam ein Forscher bei den Bantu-Volksgruppen in Ruanda zum Schluss: «Die Zeit verläuft für sie in der unserer Vorstellung entgegengesetzten Richtung: Sie kommt aus der Zukunft auf sie zu und setzt sich in die Vergangenheit fort. Dies zeigt sich linguistisch darin, dass bei der Verbkonjugation das Futurum mittels der Zeitmarke -za- gebildet wird, die mit der Wurzel des Verbs für ‹kommen› identisch ist.» Auch werde «das Morgen als eine Wiederholung des Gestern empfunden», sodass «es in Kinyarwanda nur ein Wort ‹ejo› für ‹gestern› oder ‹morgen› gibt», jeweils im Zusammenhang richtig zu verstehen.

Zusammen eine kluge Blickrichtung suchen

Die exakt gleiche Beobachtung machte in Indien der Schweizer Künstler Jörg Shimon Schuldhess im Hindi: «Das Zeichen कल (kal) bedeutet sowohl ‹gestern» als auch ‹morgen›.» Auf seiner Nachlass-Website steht: «Jörg war fasziniert von dem nicht-linearen, sondern zyklischen Zeitempfinden dahinter.» Er liess sich davon zum Merksatz inspirieren: «Die Zukunft hat das letzte Wort, gestern, als sie geschrieben und zum Geheimnis wurde.» Das könnte man fatalistisch interpretieren, als liesse sich die Zukunft nicht mehr beeinflussen.

Beat Dietschy freilich zieht aus der Auseinandersetzung mit westlichem Fortschrittsdenken andere Schlüsse. Wiederum bei den Aymara greift er den Begriff «suma qamaña» für «gutes Zusammen­leben» auf. Was das mit den «Rechten der Mutter Erde» zu tun hat, ist kurz gefasst bei Welt-Sichten zu lesen. In der nächsten «Sprachlupe» werde ich nicht näher darauf eingehen, sondern den Faden bei unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Natur wieder aufnehmen und mit den Zeit­begriffen verknüpfen.

Weiterführende Informationen

  • Indexeintrag «Linguistik» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3.
    In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwortsuche und Links nur im herun­tergeladenen PDF.
  • Quelldatei für RSS-Gratisabo «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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4 Meinungen

  • am 13.07.2024 um 16:55 Uhr
    Permalink

    Interessantes Weltbild und nicht unbedingt unlogisch, wenn man es genau nimmt! Vielleicht gibt es noch keinen Forscher, der mir das Weltbild Putins schmackhaft machen könnte. Jenes von Trumpel & Co. verstehe ich zwar auch nicht, aber es beherrscht die hiesigen Medien mehr…

  • am 13.07.2024 um 23:37 Uhr
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    Schweizerdeutsche Dialekte kennen auch keine Zukunftsform. Man sagt deshalb beispielsweise: „ich gang morn“, oder „ich gang imene Jahr…“. Aber Sprache formt das Denken. Am Ende denken wir alle nur noch angelsächsisch – welch ein Graus!
    Das Französische: „je me rends compte…“ lässt sich nicht ins Deutsche übersetzen, und derlei Beispiele gibt es viele in vielen Sprachen.
    Als ich jung und etwas in der Welt herum gereist bin, sprach noch niemand englisch, diejenigen, die ein wenig Fremdsprachenkenntnisse hatten, sprachen französisch. Sonst verständigte man sich mit Mimik und Gestik, oder man versuchte, eine Ahnung von der fremden Sprache mitzubekommen. Irgendwie war das interessanter.

  • am 14.07.2024 um 10:09 Uhr
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    Das Weltbild Putin‘s scheint mir nicht so unverständlich, wenn man die Welt von dort aus betrachtet. Perspektivenwechsel. Allerdings wird e in den allermeisten westlichen Medien insofern verzerrt dargestellt, als dass man es aus westlicher, hauptsächlich amerikanisch geprägter Perspektive anschaut.

    • Portrait_Daniel_Goldstein_2016
      am 14.07.2024 um 21:17 Uhr
      Permalink

      Die von Ihnen genannten Perspektiven scheinen mir in diesem Fall wenig mit Sprache zu tun zu haben; am ehesten werden Sie vielleicht fündig, wenn Sie sich in der Slavistik nach dem Machtbegriff im Russischen umhören. In der Ukraine jedenfalls versteht man die als sakrosankt auftretende Staatsmacht des besitzergreifenden Nachbarn nur allzugut. Wobei Verständnis keineswegs Einverständnis bedeutet – Letzteres dürfte auch in der Ostukraine abgenommen haben. Was Sie «hauptsächlich amerikanisch geprägte Perspektive» nennen, ist auch die vorherrschende ukrainische. Und schon höre ich den Einwand, das sei halt das Werk der angeblichen subversiven CIA-Milliarden und einer Ansprache McCains auf dem Maidan. Glaub’s, wer will – und verschone mich bitte mit Kommentaren in dieser Richtung ohne Bezug zu sprachlichen Aspekten.

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