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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Atlas für Zeitreisen durch Dialekträume

Daniel Goldstein /  Für den neuen Schweizer «Dialäktatlas» hat ein Forschungsteam gut 1000 Leute eingehend nach Merkmalen ihrer Mundart befragt.

Wann hatten Sie letztes Mal Juggi, Chnuppe oder Höscher/Nöscher/Jöscher? «Noch nie» ist unwahrscheinlich, denn es geht um den Schluckauf, der heutzutage fast nur noch Hitzgi oder in der westlichen Deutschschweiz Gluxi heisst, leichte Abwandlungen mitgezählt. Das zeigt eine der 170 Karten-Zusammenstellungen im neuen «Dialäktatlas», der als Buch und als Gratis-PDF erschienen ist. Er beruht auf der Befragung von gut 1000 relativ ortsfesten Personen in 127 Gemeinden. Zum Vergleich wird meistens auch die Karte aus dem früheren «Sprachatlas der deutschen Schweiz» (SDS) abgebildet, der auf Erhebungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts bei älteren Personen beruht. Die neuen Karten bilden die Jahrgänge 1940–1960 und 1985–2002 ab.

Spuren der ungewohnten Schluckauf-Namen finden sich bei der älteren Generation, bei der jüngeren einzig noch Tschuggi in Bosco-Gurin (TI). Noch überraschender ist für mich die Vielfalt, die einst bei Rööschti herrschte. So hiess das Nationalgericht gemäss SDS nur im Kanton Bern und einigen angrenzenden Gegenden. Anderswo waren es allerlei Variationen von präätlete, grööschtete, pachene, gchochete oder gewermte Härdöpfel (die selber auch vielfältiger benamst waren). Nun hat sich quasi vom Röstigraben her flächendeckend der einheitliche Name ausgebreitet. Heute findet man sonst nur noch Brägu im äussersten Westen und bei den Älteren Bröisi dort, wo ich es in meiner Jugend gelegentlich gehört habe: im Ostaargau (die Guggemusig Bräusi-Vögel in Spreitenbach gibt’s immer noch).

Dialäktatlas
Das Titelbild des Buchs bietet Reisen durch Dialekträume an, das Innere auch Zeitreisen. Den (Brot-)Zipfel meiner Jugendheimat habe ich eingefügt.
                         

Sprachsprünge zwischen Generationen

Dass die Vereinheitlichung innerhalb des Schweizerdeutschen von einer Generation zur andern schnell vorangehen kann, zeigt der Bodensatz beim Fondue: Im SDS noch nicht erfasst, heisst dieser Leckerbissen heute bei den Älteren vorwiegend Chruschte; daneben verwenden sie ein halbes Dutzend weitere Namen, so in einigen verstreuten Sprachinseln Grosmueter. Ausgerechnet diese frauen- und altersfeindliche Form, wahlweise auch Schwiger- oderStifmueter, hat sich bei den Jüngeren weitgehend durchgesetzt.

Die oft beklagte «Verhochdeutschung» der Mundart zeigt bei den Paradebeispielen Ross und Anke ein durchzogenes Bild: Noch heute kommt Pferd bei den Älteren nur einer Minderheit über die Lippen, bei den Jüngeren jedoch sind die Gegenden mit Pferd-Mehrheit deutlich gewachsen, vor allem im Norden, aber auch im Oberwallis, dort auf Kosten der Lokalform Reschi. Schon im SDS war Butter für einzelne Inseln verzeichnet, indes nirgends dominant. Bei den heutigen Älteren hat sich dieses Wort wiederum im Oberwallis durchgesetzt, aber auch weitgehend in der Ostschweiz, dort auf Kosten des früher vorherrschenden Schmalz. Bei den Jüngeren verdrängt Butter von Nordosten her zunehmend auch Anke, doch dessen gelbe Kartenfarbe überwiegt noch immer. Ähnlich gewinnt der Plural Poschtautos an Boden und verdrängt die angestammte Mehrzahl ohne s, sogar schon bei Poschis (BE) und Poschtis (GR); vgl. «Sprachlupe» Räbeliechtli.

Sprachwandel unter der Lupe

Den Wörtern an sich gilt etwa ein Drittel der Karten; erfasst sind daneben auch Lautung, Grammatik (wie eben der Plural) und Gebrauchsweise (bei Begrüssung und Höflichkeit). Es zeigt sich, dass Grundmerkmale der Dialekte, etwa die Vokalfärbungen, konstanter sind als der Wortschatz. Schon frühere Untersuchungen hatten ergeben, dass somit die regionale Unterscheidbarkeit der Mundarten kaum in Gefahr ist. Auch der Trend, geschriebenes Schweizerdeutsch mit möglichst vielen ä zu garnieren, scheint (noch) nicht auf die Aussprache durchgeschlagen zu haben: Das dazu erforschte Beispiel Tanne zeigt im Gegenteil, dass das schwache, offene Schluss-e von Westen und Norden her allmählich das spitze ä verdrängt, das in der Innerschweiz und bis an die östliche Landesgrenze vorherrschte.

Das Forschungsteam hat seine Arbeit nicht mit Schlussfolgerungen versehen. Doch das prächtige Werk belegt, dass es im Sprachwandel keinen Grund zur Klage, sondern interessante Phänomene sieht. Um ihnen auf den Grund zu gehen, wurden bei den Befragten sogar Persönlichkeits­merkmale registriert. «Dabei haben wir ­herausgefunden, dass extravertierte Menschen mit niedrigem Pflicht­bewusstsein am ehesten neue Formen übernehmen und verbreiten; sie sagen zum Beispiel eher Themene statt Theme.» Das sagte der Berner Uni-Professor und Teamleiter Adrian Leemann dem «Anzeiger Region Bern» (mit Video). Ob der Plural auf ene auch wieder wegwandelt, mag eine künftige Erhebung zeigen.

Weiterführende Informationen

  • Tonbeispiele im Dialäktatlas und auf anklickbarer Karte bei SRF.
  • Indexeintrag «Schweizerdeutsch» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwort­suche und Links nur im herun­tergeladenen PDF.
  • Quelldatei für RSS-Gratisabo «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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