Sprachlupe: «Akzentfreies Hochdeutsch» – eine Illusion
Da verlangt eine Firma in ihrem Stelleninserat «akzentfreies Hochdeutsch». Was soll denn das sein? Wie in Deutschland? Dann bitte: wo genau in Deutschland? Wie in Hannover, lautet eine gängige Irrmeinung (vgl. eine frühere «Sprachlupe»), und eine etwas weniger gängige Erklärung dazu lautet: Weil das dort heimische Plattdeutsch so ganz anders war, hätten die Norddeutschen Hochdeutsch von Grund auf lernen müssen und sprächen es daher eben akzentfrei. Nur: Wo wäre dann diese erlernte Mustersprache hergekommen? Gerade so gut könnten wir Deutschschweizer behaupten, da unsere angestammten Mundarten so weit von Hochdeutsch entfernt seien, müsse das richtige Hochdeutsch jenes sein, das herauskam, als wir anfingen, einander Bibelübersetzungen und andere prägende Texte der Schriftsprache vorzulesen.
Norddeutscher Theaterdonner
Zugegeben, das Argument ist etwas spitzfindig, hat aber einen wesentlichen Kern: Im schriftlichen Gebrauch hat sich eine variantenreiche Standardsprache herausgebildet; keine mündliche Ausprägung davon kann beanspruchen, das eigentliche und einzig richtige Hochdeutsch zu sein. «Hochdeutsch gibt es nicht. Hochdeutsch wird im Leben nicht gesprochen. Es ist eine Kunstsprache, dem Theater vorbehalten. Hochdeutsch ist eine Abmachung.» Das hielt der Schauspieler Peter Arens 1985 fest, im Sammelband «Des Schweizers Deutsch» (Hallwag). Wie der Norddeutsche Theodor Siebs diese Bühnensprache festschreiben konnte und damit weiter südlich Minderwertigkeitskomplexe auslöste, legen Fachleute dar, die in der genannten «Sprachlupe» zu Wort kommen. Nur Österreich blieb – dank Selbstbewusstsein und Burgtheater-Deutsch – verschont.
In manchen Schweizer Köpfen (auch eingewanderten deutschen) geistert zudem die Vorstellung herum, Deutschlands Name belege, dass es die eigentliche Heimat der deutschen Sprache sei. Diese Sprache hiess aber bereits so, abgeleitet vom althochdeutschen «thiot» für «Volk», lange bevor Deutsch von einem bestimmten Volk zur Nations- und Staatsbildung beansprucht wurde. Hochdeutsch mit Deutschland zu identifizieren, hat die ungute Nebenwirkung, dass es bei uns als «Fremdsprache» gilt. Gewiss muss es eigens erlernt werden – aber das gilt überall im deutschen Sprachraum, auch wenn es in jenen Gegenden leichterfällt, die keine markanten Dialekte (mehr) kennen. Doch es ist überall eine zur Muttersprache gehörende Form, die auch regionale Eigenheiten aufweisen darf; der kleine Dudenband «Schweizerhochdeutsch» gibt entsprechende Hinweise zur Aussprache.
«Eher ‹neutrales› Hochdeutsch» bei SRF
Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) erhält seit Langem regelmässig Reklamationen, wenn die hiesigen Eigenheiten ein gepflegtes Ausmass überschreiten oder – wohl häufiger – wenn sie ganz fehlen und dafür norddeutsche Klänge überhandnehmen. «20 Minuten» griff das Thema neulich auf und erhielt von SRF die Auskunft, man achte auf «ein eher ‹neutrales› Hochdeutsch». Die Moderatorin Anna-Lisa Achtermann hatte auf Tiktok berichtet, sie habe fürs Radio «ein komplett neues Hochdeutsch erlernen» müssen, obwohl sie schon «ganz normal Hochdeutsch, wie ’ne Deutsche halt» konnte; sie ist zeitweise in Lippstadt aufgewachsen.* Als ein «user» fragte: «Das heisst du sprichst im Radio hochdeutsch extra mit akzent obwohl du es akzentfrei kannst?», bestätigte die Moderatorin: «Korrekt!» In der Pendlerzeitung kann sie nun die wissenschaftliche Auskunft lesen, dass auch Hochdeutsch verschiedene «Varietäten» kennt.
Diese unterschiedlichen Klänge als «Akzente» zu bezeichnen, beruht auf der Illusion, es gebe auch eine «akzentfreie» Version. Die gibt’s so wenig wie «kein Wetter». Eine gewisse Vielfalt goutiere ich auch bei SRF, aber wenn Schweizer Namen «verdeutscht» werden, hört der Spass auf. So ist, auch aus hörbar schweizerischen Mündern, «Zürich» fast nur noch mit lang gedehntem ü zu hören – dabei belegt allein schon das Adjektiv «Zürcher», dass da ein kurzes ü hingehört. Immerhin ist mir «Züüüricher» bisher erspart geblieben.
* Nachtrag 25.4., gestützt auf einen (mit Login zugänglichen) Tamedia-Bericht: «Anna-Lisa Achtermann ist Doppelbürgerin: Sie wuchs in Lippstadt auf und spricht deshalb Hochdeutsch mit einem ‹westfälischen Slang›, wie sie selbst sagt, ‹das heisst, ich betone alles auf das Ende des Satzes›.» – Ob «mit einem Slang sprechen» korrektes Hochdeutsch ist, bleibe dahingestellt; gemeint ist aber wohl nichts anderes als ein bestimmter Akzent.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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«erhielt von SRF die Auskunft, man achte auf «ein eher ‹neutrales› Hochdeutsch».»
Geht für mich unter Realsatire!
Auf Tiktok weist Frau Achermann hin, dass sie das «neutrale Deutsch» freiwillig gelernt hat. Vielleicht wurde sie dazu strikt angehalten, dies freiwillig zu tun?
Kommentar beim abendlichen TV-Bericht aus ZH : «Scho weder ä dütsche»
In den anderen Sprachregionen sind importierte Akzente weniger ein Problem, wobei auch in der Romandie «encore des français» durchaus zum Standard gehört.
Zum Glück gibt es in der Schweiz nur «Minderheiten». Dass die Romandie zum grössten «Kulturblock» der Schweiz geworden ist, darf man in der Romandie wohl kaum publik erwähnen. Tatsache ist aber, dass die CH eine Gruppierung von Minderheiten ist (Sprache, Religion, Parteiaffinität…) und daraus auch eine Kultur von Zusammenleben und Kompromiss entwickelt hat, welche im Rest der Welt (RdW) offenbar noch nicht angekommen ist.
Selbst bei RTS hat man offenbar zur Kenntnis genommen, dass der Begriff «bon allemand» eine Insult an meine Muttersprache (Luzern) beinhaltet. Warum sollte meine Mutter «schlechtes Deutsch» sprechen, obwohl sie polyglott selbst «germanische» Sprechweisen pflegen konnte. Deutscher Kommentar: noch nie habe ich Schweizerdeutsch «so gut verstanden».
Emil (Steinberger) erklärte kürzlich: Nach seiner Vorstellung in Deutschland in hochdeutscher Sprache sei ein Zuhörer auf ihn zugekommen mit der Bemerkung, er habe nicht gewusst, dass
schweizerdeutsch (!) so leicht verständlich sei.
10.04.2023 GGS in InfoSperber
Als deutscher älteren Jahrgangs kenne ich Hochdeutsch auch nur aus dem Schulunterricht der 60 – 70iger Jahre. Aber ich kann bestätigen das nirgends in Deutschland akzentfrei Hochdeutsch gesprochen wird. Nach der „neuen Rechtschreibreform“, der Mode, in Anglizismen zu sprechen, und der Gendersprache in der die letzten Regeln der deutschen Sprache und Schrift über den Haufen geworfen worden sind, erst recht nicht mehr. Da finde ich eher im Schweizer Dialekt und dem Schweizer Hochdeutsch mehr Hochdeutsch wieder als in der jetzigen deutschen Sprache.
Dass die Züricher Zürcher sind, haben mittlerweile auch Deutsche begriffen.
Meine Grosseltern mütterlicherseits kamen kurz nach 1900 aus einer schwäbischen Kleinstadt nach Zürich. Deshalb höre ich heute noch ‚hundert Stunden gegen den Wind‘, wenn schweizerdeutsch oder hochdeutsch mit schwäbischem Zungenschlag gesprochen wird.
Anfangs der 60er Jahre haben in meiner Lehrfirma einige Deutsche gearbeitet. Niemand sprach lupenreines Hochdeutsch, mit einer Ausnahme. Er war zwar Sachse, aus Leipzig, er erklärte mir mal, wie das klingt. Da gefällt mir das Schwäbische deutlich besser. Aber er selbst sprach ein lupenreines, schönes Hochdeutsch, ohne diese Härte, die die Sprache haben kann. Ich hab seither nie mehr so schönes Hochdeutsch gehört.
Schweizerdeutsch: keine Sprache hört man bisweilen als Vorwurf. Es ist nicht verschriftlicht worden!
Ich habe einen Franzosen gekannt, der jeweils protestierte mit: „Moi, je ne suis pas français, moi, je suis breton.“
Danke für den spannenden Artikel.
Mir ist der Akzent des SRF «Schweizer Hochdeutsches» egal. Als Romand, der das Leben in der Deutschschweiz und mehrere SRF-Sendungen schätzt, ist vor allem wichtig, dass nicht so schnell wie in Deutschland geredet wird. Unsere Mehrsprachigkeit in der Schweiz bewirkt, dass wir auch in unserer jeweiligen Muttersprache etwas langsamer reden als im entsprechenden Nachbarland. Das ist gut so, weil wir uns trotz der Mehrsprachigkeit besser untereinander verstehen können. Es gibt aber grosse Unterschiede zwischen Regionen und Kantonen: Der Genfer spricht oft so schnell wie in Frankreich, der Waadtländer langsamer und mit einem besonderen Akzent, mindestens auf dem Lande.