Nicht mehr auf Papier – und ja nicht papieren!

Daniel Goldstein /  Beflügelt es die Kolumne, wenn sie aus der Zeitung ins Internet wandert? Gar so sehr, dass die Schreibweise flüchtig wird?

Die «Sprachlupe» ist seit Anfang November allein noch im Internet zu lesen. Wer sie in Händen halten will, muss sie ausdrucken. Sofern die «Sprachlupen» auf Papier je auch im übertragenen Sinn papieren waren: Vom vorgegebenen Kolumnen-Format befreit, sollen sie es erst recht nicht sein, vielmehr frei von der Leber weg fliessen – der Leber eines Lesers, wie ich ja selber auch einer bin. Deshalb versuche ich beim Schreiben, die Brille des Empfängers aufzusetzen (ohne Ansehen des Geschlechts).

Dazu halte ich mich an ein Rezept, das ich trotz seiner Banalität gern weitergebe: Ich überlege mir, was ich sagen will, und dann – sage ich es. Nach meiner Erfahrung als Leser (und als Schreibcoach) gehen längst nicht alle beim Schreiben so vor: Allzu oft schalten sie einen Zwischenschritt ein und fragen sich, wie «man» ihren Gedanken denn auszudrücken pflege – je nachdem in gehobener, amtlicher, wissenschaftlicher oder sonst einer Ausdrucksweise. Und schon sind die papierenen Sätze da, oft verschachtelt und mit Substantivierungen gespickt: «Die Aneignung des Vorgelegten ist den Lesenden, wenn ihre Interessenlage entsprechende Bemühungen rechtfertigt, gegebenenfalls durch mehrfache Lektüre zuzumuten.»

Anders gesagt: «Wer sich dafür interessiert, soll meinen Text so oft lesen, bis er drauskommt.» Das aber ist eben gerade nicht zumutbar: Die Sätze sollen auf Anhieb verständlich sein. Dazu braucht es keine aufgesetzt saloppe Schreibweise wie: «Bock auf Lesen? Hau rein, hier schreibt der Kumpel!» Was es aber braucht, ist eine Vorstellung davon, wen man ansprechen will. In meinem Redaktorenleben hörte (oder sagte) ich oft: «Der Leser will …» – als ob wir das so genau gewusst hätten. In einem frühen, aber sexistischen Anflug von Genderbewusstsein pflegte ein Kollege zu mahnen: «Denk daran, das Liseli Müller von der Langstrasse muss das auch verstehen können.»

Nun kenne ich dieses fiktive Liseli so wenig wie sonst einen anonymen Leser. Ich stelle mir indessen vor, dass niemand die «Sprach­lupe» liest, dem ich zuerst erklären müsste, was ein Substantiv ist. Wer aber Interesse und Grundkenntnisse mitbringt, soll meine Texte möglichst leicht verstehen können. Und deshalb ist das, was ich sagen will und daher hinschreibe, selten die definitive Fassung. Die Gedanken stehen zuerst so auf dem Bildschirm, dass ich selber drauskomme. Dann müssen sie so geordnet werden, dass auch andere eine Chance haben, ihnen zu folgen. Und zuletzt müssen die Sätze so vereinfacht werden, dass der Sinn erhalten bleibt und sich erschliesst, ohne dass er mühsam herausgeklaubt werden muss.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 18.12.2021 um 18:12 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank, Herr Goldstein. Ich wage zu fragen: Ist es Zufall, dass wir beide goldige Namen tragen? Ich hoffe, in unserer Brust schlage ein goldenes Herz. Bin ich mit einem goldenen Humor gesegnet, oder bilde ich mir das nur ein? Es ist immer noch gleich wie vor vielen, vielen Jahren: erst durch den Stilduden hab› ich den Unterschied der beiden Goldwörter erfahren.
    Ich weiss nicht genau warum, aber bisher hat es mich noch nie gelockt, Ihre Kolumne zu lesen. Es liegt wohl auch daran, dass ich seit 14 Tagen so viel mehr Zeit zum Lesen und Schreiben habe, da unser fürsorglicher Bundesrat und mein ehemaliger Parteigenosse Alain mir unter Androhung einer zünftigen Geldstrafe – ich setze das Geld lieber zur Unterstützung «meines» Infosperbers ein – unmissverständlich verboten hat, viermal pro Woche vier Stunden aufzuwenden – zwei Stunden Fahrt, zwei Stunden Spiel, das war mein Ziel! – um dem schönen, erstkürzlich entdeckten Hobby zu frönen. Ich hoffe, ich habe Ihren heutigen Ratschlag zu Ihrer vollen Zufriedenheit befolgt. Auch ich war berufshalber täglich mit Sprachen beschäftigt, und seitdem ich l’état de bien-être geniesse, wird meine Liebe zur deutschen und frabzösischen Sprache belohnt. Es gibt ja trotz aller Imfp-Fanatiker (ui, jetzt habe ich schon wieder etwas Persönliches verraten – hoffentlich ist es keinem in den falschen Hals geraten – sehr viel Schönes und Angenehmes auf der Welt ). Ich bin im Zimmer von 172 sinnvollen Sprüchen umgeben, das hilft mir im Leben.

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