Mit Trommeln und Geschrei gegen dunkle Seiten
7. April 2017
«Ist etwas passiert?» Fragt S. regelmässig. Wenn sie nach Hause kommt. Wenn ich am Kochen bin. «Hast du etwas zu erzählen?» Höre ich. – Eigentlich nicht. Das Haus steht, ich lebe noch. Das ist nicht selbstverständlich. Nicht für alle. Keine und keiner mehr, der oder die gerne Menschen «führt» – wohin eigentlich? – und meine Kündigung provoziert. Keiner aus meiner Männergruppe hat sich umgebracht. Die Mutter macht, im Moment, keine Schwierigkeiten. Der Enkel wird nicht, wie von ihm befürchtet, von Enten attackiert. Ich bin bei knapp dreizehn Grad schwimmen gegangen.
«Sind Sie nicht erfroren?» Wird mich am letzten Sonntag des Monats, der kühler endet als er begonnen, ein Mann fragen, der sich als achtzigjähriger Rheumatiker zu erkennen gibt. Ich werde mir den Satz «Dann würden Sie mich ja nicht sehen» nicht verkneifen können und ihn dazu verleiten, mir zu erzählen, er sei früher immer als erster und letzter im Jahr im Greifensee geschwommen. An dem er seit über fünfzig Jahren wohne. Jetzt habe es ihm der Arzt verboten. (Auf welcher rechtlichen Grundlage?) Das Schwimmen. Gänzlich. Eigentlich. Er könne die Arme nicht mehr richtig heben. Wird er mit gequältem Gesicht demonstrieren. Das Rheuma. Nu na sünnele. Dürfe er. Aber bei sechzehn Grad werde er auch dieses Jahres wieder ins Wasser gehen. Ich werde dem Ungehorsamen viel Vergnügen wünschen. Wenn es dann so weit sein werde. Und mich weiteren Beschreibungen des mir selbst, möglicherweise, Bevorstehenden entziehen.
Nein. Nichts passiert. Murmle ich an Abenden. Meistens. Seit ich kaum mehr ausser Haus arbeite. Sonst hätte mir vielleicht ein Bettler das Portemonnaie aus der Hand gerissen, während ich den geforderten Zweifränkler aus dem Münzfach zu klauben versuchte. Mein Zug wäre wegen Personenschadens ausgefallen. Oder ich hätte mich in eine Niqab-Trägerin verliebt. Und damit mein ganzes Leben durcheinander gebracht. An einem Samstag Anfang Mai werden mich an der Haltestelle Zürich Bahnhofplatz innert einer Minute tatsächlich drei fast schon vertraute Bettelgesichter um «etwas fürs Wochenende» bitten, während sie unter den Tramschienen, im Shopville, schon in Samstagabendhektik verfallen, noch die Hunderter aus den Geldautomaten reissen. Mir wird nicht nach Freizügigkeit sein. Ich werde meinen E-Reader aus dem Rucksack ziehen und die drei anbrummen: «Ich bin am Lesen.» Auf dem Rückweg von ihrer kurzen Betteltour wird die Schnorrerin nochmals bei mir stoppen: «Ich frage nicht, ich lasse Sie lesen.» Als ich von dem Buch über die sexuellen Ausbeutungen in der deutschen Odenwaldschule aufblicke, wird sie grinsen: «Gutes Gedächtnis, gälledsi?» Und mir damit ein freundliches «Tipptopp» entlocken. Aber meistens bin ich nicht der Stadt, wenn der Dreier hinter dem Central stoppt, weil sich ein «Verrückter» (so der Tramführer) angehängt hat und auf dem Velo Richtung Neumarkt ziehen lassen will.
«Mir ist etwas passiert.» Berichtete mir ein Freund vor Jahren am Telefon. Und seine Wortwahl hat sich in meiner Erinnerung festgekrallt. Mir ist etwas passiert. Es klang wie das Geständnis einer Peinlichkeit. Er hatte einen Hirninfarkt. «Gemacht.» Haben ihm die Ärzte oder Ärztinnen womöglich diagnostiziert. Und damit die Allmachtsfantasie genährt, wir hätten das mit den Krankheiten und dem Tod im Griff. Nur keinen Krebs machen. Auch Ueli Steck – der «schnellste Mann am Berg» – hofft, dass nichts passiert, wenn er demnächst den Everest und den Lhotse in einem Zug zu machen versucht. Ohne dazwischen aus der sogenannten Todeszone abzusteigen. Mir ist nichts passiert. Ich habe mich nur in Stoffen und Material verloren. Oder wäre ein gelungener Satz, der mir zugefallen, es wert, erzählt zu werden? «Scheitern heisst für mich: Wenn ich sterbe und nicht heimkomme.» Verrät Steck dem Tagesanzeiger in einem Gespräch – das sich am 30. April als eines der letzten erweisen wird – vor der Abreise nach Kathmandu. Das heisst, passieren, zustossen kann ihm nichts. Sterben bedeutet scheitern. Einen Absturz, einen Fehler machen. Umkehren, weil er es mit der Angst zu tun bekommt oder die Kräfte ihn verlassen – das wäre für den auch schon mal als «The Swiss Machine» Gezeichneten keine Niederlage, kein Scheitern. Sterben heisst scheitern. Sind die im Mittelmeer abgesoffenen Afrikanerinnen und Afrikaner gescheitert?
8. April 2017
Wenn die Tage wärmer werden, kriechen nicht nur die Murmeltiere aus ihren Löchern, sondern auch die Kinder aus ihren überheizten Zimmern. Und das mit Gebrüll. S., die den ganzen Tag mit Schülerinnen und Schülern zu tun hat, die auch schon mal schreien und quietschen, träumt von Eltern, die am Sonntag in der Früh mit ihren Kindern zu einem Ausflug an einen See oder ins Landesmuseum aufbrechen, statt sie aufs Klettergerüst vor unserem Fenster zu schicken, um in Ruhe weiterzuschlafen. Oder so. Die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Bedürfnisse in schulfreien Zeiten: Einerseits die Lehrerin, die Ruhe vor Kinderlärm möchte, andrerseits die Kinder, die sich herumtobend vom stillen Sitzen in schulischen Strukturen erholen wollen.
Neuerdings steht es auf den Basketballbrettern unseres Spielplatzes – von Montag bis Samstag darf da nur von 10.00 – 12.00 und 13.30 – 21.00h, am Sonntag zwischen 12.00 und 21.00 Uhr gespielt und gekreischt werden. Was helfen fixe Regeln jenen, die in Schichtbetrieben oder flexibilisierten Verhältnissen arbeiten? Warum vertrauen Menschen nicht auf anarchistischen Respekt und ausgehandelte Rücksicht? Was würde Oskar, der Trommler aus Günter Grass‘ Erfolgsroman – der sich mit Geschrei durch die Welt kämpft und seine Trommel mit dem Zersingen von Gläsern aller Art vor fremdem Zugriff verteidigt –, auf den (Spiel-)Plätzen des 21. Jahrhunderts tun? Was, wenn alle Kinder über solche Kräfte verfügten? Wenn sie sich, in den höchsten Tönen singend, gegen die Macht und (sexuelle) Gewalt Erwachsener zu wehren vermöchten? Wie viele Eltern, Lehrpersonen, Heimleiterinnen und Prediger würden sich dann mit zersplitterten Brillengläsern verraten?
13. April 2017
Ein Diktator ist, womöglich, auch ein freundlicher Mensch. Eine Kindsmörderin schreibt allenfalls empfindsame Gedichte. Und wendet dafür, vermutlich, deutlich mehr Lebenszeit auf als für das Töten. Nur das Opfer ist für den Rest seiner Tage leblos. Ein Lehrer rettet das Leben des einen Schülers, den anderen beutet er sexuell aus. Diese «Zebrastruktur» des Menschen ist nach Publikation von Markus Zanggers Buch «Jürg Jegges dunkle Seite» sowie dessen öffentlichen Äusserungen – die nur als Eingeständnis interpretiert werden können – einmal mehr und beklemmend sichtbar geworden.
Auf den Fall Jegge(s), dessen Kontext und die Fragen, die er aufwirft, wird mit etwas Distanz und differenzierender Vertiefung zurückzukommen sein. Im Moment versuche ich mir vorzustellen, was ich täte, wenn mir Jürg Jegge zufällig begegnete. In der S-Bahn, in einem Zürcher Restaurant oder auf einer Wanderung irgendwo in den Schweizer Bergen. Wandert er überhaupt? Ich habe ihn in den letzten Jahrzehnten ein paarmal getroffen. An einer Veranstaltung, an der er gesungen, ich und andere gelesen haben. Am 13. November 2006 war er Gast in der von mir moderierten StreitBar in Karls Forum für lautes Denken. Dem Gespräch mit ihm gab ich den im (Rück-)Licht des Bekanntgewordenen den einigermassen doppeldeutigen Titel «Kuschel- oder Kuscherpädagogik – eine unzeitgemässe Bildungsdebatte». Im, vorläufig, letzten Herbst lud ihn ein Kollege zu seinem Abschied vom pädagogischen Erwerbsleben ein. Jürg Jegge gab einen älteren Text zum Besten. Und wir lasen zu viert aus unserem eben erschienenen Buch «Lernen ist meine Sache». Vermutlich hätte sich damals keine und keiner von uns daran gestört, wenn Jürg Jegge als Co-Autor wahrgenommen worden wäre. Am 1. Mai 2017 werde ich den Satz «Du hast ja noch ein Buch mit ihm geschrieben» korrigieren. Mit Nachdruck.
Wenn mir morgen Jürg Jegge am Winterthurer Wochenmarkt, im Zwölfer oder in einem Kino entgegenkäme – wie würde ich reagieren? Die Strassenseite wechseln? In meinen schlafenden E-Reader starren? Das Handy ans kalte Ohr drücken? Oder würde ich stehen bleiben, ihm nach bundesrätlich verordneter Schweizer Sitte die Hand drücken, fragen, wie es ihm gehe, und, ohne die Antwort abzuwarten, ein Gespräch übers Wetter oder Roger Federer beginnen? Oder würde ich sagen: «Wir müssen reden.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Mit Jürg Jegge würde ich auf jeden Fall reden, falls man früher einmal der Meinung war, dass nicht alles falsch war, was er geschrieben und auch nicht nur falsch, was er gemacht hat und als mutmasslicher Pionier gründete. Ich werde seine Publikationen, bei denen ich keineswegs alles gut fand, nicht entsorgen. Der Umgang der Medien mit J. war mutmasslich erbarmungsloser als der mit einigen anonym gebliebenen Mördern, was den Schutz vor der Neugier der Öffentlichkeit betrifft. Ich würde behaupten, Jegge ist mit der öffentlichen moralischen Ruinierung seiner Person genug gestraft.
A propos Steck im Zusammenhang mit Riskieren und Scheitern: Natürlich sind die, wie es Jürgmeier ziemlich salopp fragt, «im Mittelmeer abgesoffenen Afrikaner gescheitert», im Sinne von Steck, was denn sonst? Sie sind wohl mit ihrem entsprechenden Risiko stärker gescheitert als ihre zu Hause verbliebenen Mütter und Grossmütter, deren Recht auf Nachzug bei Erfolg z.T. gefordert wird , aber nicht leicht zu bewerkstelligen wäre. Die spanischen und portugiesischen Eroberer von Mittel- und Südamerika nahmen im 16. Jahrhundert bei der Überfahrt als Landnehmer und Einwanderer ein mindestens so grosses Risiko auf sich. Ging das Schiff unter, war man gescheitert, ebenfalls, wenn man den Pfeilen der sogenannten Eingeborenen zum Opfer fiel.
PS. Steck bleibt, was immer über ihn postmortal moralistisch gerüffelt wird, trotz Scheitern ein zeitlebens verantwortungsfähiger Jahrhundertalpinist und Bergpionier. RIP.