Menschliches Versagen oder Schreiben ohne U
29. Juni 2020
Eigentlich hatte alles damit begonnen, dass ich auf ein Mail nur eine dieser automatisch generierten Antworten erhielt. Allerdings ohne den obligaten Hinweis, es werde nach den Ferien oder einer Geschäftsreise umgehend beantwortet. Sondern mit der für mich beunruhigenden Information, der Angeschriebene sei nicht mehr in dieser Firma tätig. Die bis zu diesem Zeitpunkt aus zwei Personen bestanden hatte. Jetzt noch aus einer. Der Mann, der mich während fast drei Jahrzehnten unterstützt, begleitet und mitbekommen hatte, dass wir zwei Mal die Wohnung gewechselt und alt geworden, der Mann, den ich deutlich häufiger gesehen als die Hausärztin oder die wechselnden Anlageberater*innen meiner Mutter – ich war einmal mit ihr bei der Bank, als sie mir, gerade noch rechtzeitig, ihre finanziellen Angelegenheiten übertrug –, dieser Mann war, ohne Ankündigung und Abschieds-SMS, aus meinem Leben verschwunden. Liess mich mit ComputerNotebookRouterDruckerSoftware einfach allein. Sein Kollege und Chef konnte oder wollte ihn nicht ersetzen.
Nur wenige Wochen später entwickelte mein Ultrabook – das der Verschwundene mit eigenen Händen zusammengesetzt – eine ernsthafte Verbindungshemmung. So richtig zuverlässig liierte es sich nur noch mit dem heimischen Netzwerk. Bei fremden wurde es ausgesprochen eigen. ‹Ausgerechnet jetzt.› Dachte ich. ‹Natürlich jetzt!› Als ob so ein Hardwareteilchen lesen könnte, was es empfängt. Und dem (ohne kundige Unterstützung) hilflosen User demonstrieren wollte, wo der digitale Bartli den Most holt. Das durchtriebene Kerlchen. «Der WLAN-Empfänger.» Diagnostizierte F.[1], der Neue mit viel Erfahrung, den ich dank freundschaftlicher Empfehlung gefunden. Der Mann, auf den ich hoffentlich in den Jahren, die kommen, in IT-Angelegenheiten zählen kann, empfahl – weil sich eine Reparatur nicht lohne – eine Notlösung mit WLAN-Adapter und mittelfristig ein neues Notebook. Das «Mittelfristige» lockte mich nach ein paar Wochen. Als einige schon zu hoffen begannen, der Sommer vernichte dieses Virus für immer.
Der freundliche Päcklipöstler streckte mir – seit der Bestellung waren noch nicht einmal 24 Stunden vergangen – das Paket mit dem neuen Convertible der Firma A entgegen. Ich verband das Gerät mit dem drahtlosen Netzwerk. Absolvierte die Anmelderoutinen. Installierte die Programme, die ich brauche. Synchronisierte die Dropbox. Richtete die Touchscreen-Kacheln ein. Und stand stolz an meinem Tisch. Weil ich alles ohne fremde Hilfe geschafft. Dann der Absturz. Nichts ging mehr. Das Ganze noch einmal. Endlich war alles, bis auf die letzte Kachel, wieder installiert und das Voll-Backup auf einer externen Festplatte abgespeichert. Einzwei Stunden später stand der Mann – der sich eben gerade noch über die Leichtigkeit des Tippens auf der neuen Tastatur gefreut – wieder vor einem Gerät, das repariert werden wollte, aber auf entsprechende Tools nicht reagierte. Jetzt rief ich um Hilfe. Trotz der Angst vor dem Vorwurf, ich hätte etwas falsch gemacht.
F. setzte «das System» – «system change» fordert die Klimajugend zu Recht – am nächsten Tag neu auf. Obwohl es auch ein Hardwareproblem sein könnte. Meinte er und installierte mir noch die wichtigste Software, bevor er ging. Da funktionierte alles noch einwandfrei. Ich füllte die Dropbox wieder mit meinen Daten. Installierte noch ein paar zusätzliche Programme. Keine Probleme. Ich ging beruhigt ins Bett. Nicht einmal zwölf Stunden später, ich hatte erste Notizen gemacht, der nächste Absturz. Es vergingen gerade mal 48 Stunden, da konnte ich den Powerknopf eines neuen Notebooks der Firma A drücken. Der Online-Shop hatte es ohne Rückfragen ausgetauscht. Im Rahmen einer Garantie, von der ich zum ersten Mal hörte: Dead on Arrival. Defekt bei Erhalt. Die ich nur 24 Stunden später wieder brauchen konnte. Auch mit dem neuen Gerät war nach ein paar unbeschwerten Stunden Schluss. Hatte ich den bösen Blick? Würden mich die Angestellten im Zürcher Showroom des Onlinehändlers misstrauisch mustern? Immer wieder fragte ich mich, was ich falsch gemacht. Statt gelassen oder verärgert zu denken, ein Gerät, das beim kleinsten (menschlichen) Fehler, BIOS oder RAM aufgäbe, sei ein Scheissteil. Die Technik verlangt einem Dinge ab, die man nicht weiss und kann. Versetzt mich in diffuse Abhängigkeit und macht einen dauernd zum Versager. Die Technik selbst, sie macht, natürlich, keine Fehler. Höchstens die Menschen, die hinter ihr stehen, aber nicht greifbar sind. Die, zum Beispiel, in ChinaVietnamUSA sitzen. Dort hatte irgendjemand dieses Gerät zusammengesetzt. Vermutlich sogar getestet. Und jetzt arbeitete ich damit. Lebte dieser Mensch noch? War er ein Opfer von Corona oder der chinesischen Diktatur geworden? Was weiss ich über die Lebensverhältnisse der Menschen, die meine Geräte zusammenbauen und die Kleider nähen, die ich kaufe und trage? Die Welt stand kopf. Die Technik, die mich unterstützen sollte, machte mich zum Störfaktor in einer IT-Welt, die bestens funktionieren würde – wenn nur ich nicht wäre. F. versuchte, mich zu beruhigen. An mir liege es nicht. Alles richtig gemacht. In den USA gebe es neuerdings sogar eine Consumers Warning vor diesen Geräten der Firma A.
Der freundliche Mitarbeiter des Onlineshops für alles Digitale – dessen dunkle Hautfarbe ich registrierte, obwohl sie nichts an meiner Lage änderte – tippte, nachdem ich meine Leidensgeschichte heruntergespult, alles ein, was ich mir wünschte. Rücknahme des Notebooks der Firma A. Lieferung eines anderen, eines deutlich billigeren Convertibles der Firma B. Auf Empfehlung von F. Ich hatte erst ein paar Schritte in die Sonne gemacht, als mein Smartphone meldete, die Bargutschrift sei auf mein Konto überwiesen worden. Bar?! «Wir sind eben die Besten», hatte der Coole gelächelt, als ich sagte, bei der Konkurrenz koste dieses Notebook etwa dreihundert Franken mehr. Jedenfalls gestern. Und am nächsten Morgen legte mir ein, womöglich, etwas verwunderter Pöstler das dritte Paket auf die Treppe. Fast routiniert aktivierte ich das Office, richtete Mailkonten ein und installierte den KeePass, mit dem ich an meine Passwörter komme.
Seit zwei Tagen funktioniert das neue Notebook, das der Firma B, zuverlässig, und kein Absturz. Ich werde schon fast übermütig. Wenn da nicht – gegen alle Wahrscheinlichkeiten – die Taste «U» wäre. Die bedenklich wackelt. Obwohl ich sie mit feinem Finger hineindrücken kann, bis sie einrastet, wird offensichtlich: Auch dieses Gerät wäre ein Fall für die Dead-on-Arrival-Garantie. Die beruhigende Stabilität des «U» hält jeweils nur bis zur nächsten Berührung. Ist mein Anschlag – vor Jahrzehnten auf der mechanischen Schreibmaschine meines Vaters trainiert – zu hart? Die Selbstverständlichkeit, mit der wir hinnehmen, dass Technik funktioniert – was sie ja erstaunlicherweise und meist tut –, macht uns im Ausnahmefall zu menschlichen Versager*innen. Ist es das, was mich so nervös macht, wenn bei Hard- oder Software irgendetwas nicht funktioniert? Sogar, wenn ich die entsprechende Funktion gar nicht brauche. Müsste ich lernen, mit dem Unvollkommenen, mit «Fehlern» zu leben? Technischen Fehlern. Aber auch mit, womöglich, bevorstehenden körperlichen oder gar geistigen Einschränkungen? Die Menschen mit Behinderungen mit einer geradezu heiteren Gelassenheit hinnehmen – müssen. Die mir als Schwerstnormalem fehlt. Müsste ich lernen, das «U» mit einem Tastencode zu generieren oder nur noch Sätze ohne «U» zu schreiben? So wie Menschen in ärmeren Gegenden auf vieles verzichten müssen, was ns selbstverständlich scheint. Von dem sie nicht einmal wissen, dass es das gibt. Volle Früchtegestelle bis 22.00h. Täglich saberes Wasser. Strom rnd m die hr. Weil man ach ohne «U» gt af Mottas Mragl oder Mottas Schlarigna kommt. Einem das fehlende «U» weder Brnsli noch den Kss verdirbt. Aus der UNO allerdings wird NO, aus der UBS Basel-Stadt, die Utopie weiss nicht, in welche Richtung sie als Topie kippen soll, ohne «U» kommt man – AutoBusFlugzeugFussZug – nur noch mit dem Velo in ein anderes Land, und der Traum ist bloss noch ein Tram.
Man kann auch ohne «U» glücklich werden, aber ich Schreiberling will nicht auf diesen einen der eh schon seltenen Vokale verzichten. Bei einem Gerät, das ich eben erst gekauft. Das ich nicht noch einmal eintauschen will. Wieder alles neu installierensynchronisiereneinrichten – das will ich nicht. Obwohl im Showroom des Online-Händlers ein freundlicher Herr – der diesmal auch eine verständnisvolle Dame sein könnte – das Notebook mit dem lottrigen «U» bestimmt lächelnd entgegennähme und dafür sorgen würde, dass mir der Pöstler nicht einmal 24 Stunden später wieder ein Päckli vor die Türe legte. Dead-on-Arrival-Garantie halt. Aber der Sturkopf, der in Zeiten von Onlinehandel und Weltfirmen mit Supportcentern in Irgendwo ein repariertes statt ein neues Gerät will, gerät auf einen Hindernisparcours der besonderen Art. Als ich endlich einen Menschen einer Servicestelle im schweizerischen Schlieren am Handy habe, erklärt mir der Mann – den ich zuerst am liebsten digital umarmt hätte –, ja, sie würden solche Reparaturen machen. Aber, und dann kommt’s, sie würden das Gerät auf jeden Fall zurücksetzen. Datenschutz. So schliesst einem das modernen Sicherheitsdispositiv den eigenen Computer weg. Die Onlinefirma, die mir anfänglich noch geduldig antwortet, mich aber immer wieder, wahrscheinlich mit Textbausteinen, auf den kürzesten Weg des Eintauschs schicken will, lässt mir per automatic response plötzlich ausrichten, wegen der vielen Anfragen könne es bis zu zwölf Tagen dauern, bis ich eine Antwort erhielte. Irgendwann rät mir ein Mensch – der einen dieser Ich-bin-kein-Roboter-Tests locker bestehen würde –, ich müsste halt eine Vor-Ort-Garantie abschliessen, dann würde jemand zu mir nach Hause kommen. Und tatsächlich – für wenig Geld kann ich beim Hersteller meines immer noch neuen Convertibles, bei der Firma B in C kann ich ein Premium-Care-Upgrade abschliessen. Im Support-Beschrieb wird mir für die nächsten drei Jahre versprochen: «Reparaturen erfolgen an Ihrem Standort am nächsten Werktag.»
Als ich in diesem digitalen Paradies endlich eine Servicestelle mit gültiger Telefonnummer gefunden – die präzis macht, was ich brauche, und erst noch in meiner Nähe domiziliert ist –, kommt dem freundlichen Mensch am Telefon, kurz bevor wir einen Termin abmachen können, in den Sinn: «Wir bekommen keine Ersatzteile für Consumer-Geräte, nur für professionelle Businessmodelle.» Beleidigt – als hätte er mich als «Hobbyschreiber» abgetan – mache ich mich wieder auf die Suche. Nach zwei weiteren automatisch generierten Mails, die mich auffordern, ein Serviceticket zum Umtausch meines Gerätes zu lösen, habe ich endlich einen Menschen am anderen Ende der Funkwellen, der mir bestätigt, ich hätte eine Vorort-Garantie, und der Fall sollte noch diese Woche erledigt werden. Am Freitag vor der Abreise ins Engadin sitzt tatsächlich ein geschickter Herr an einem meiner Tische und wechselt nicht nur das «U», sondern die ganze Tastatur aus, so dass ich am anderen Tag, zusammen mit S., mit Bus und Zug in aller Ruhe nach Chur, weiter nach Samedan, vorbei an Punt Muragl nach Pontresina fahren kann. Schon am Sonntag montieren wir die Wanderschuhe, dann geht’s zu Fuss, vorbei an gefrässigen Murmeltieren, Richtung Muottas Muragl, wo wir uns, zusammen mit Freunden aus dem Aargau, Capuns oder Angus-Beefburger servieren lassen. Die digitale Unruhe ist beendet, die Welt von A bis U gerettet. So leicht geht das.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
[1] Name geändert
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