Kommentar

kontertext: Zurück aus Spanien

Beat Sterchi © Alexander Egger

Beat Sterchi /  Die Bilanz eines langen Sommers in einem fremden Land.

Allein im Auto unterwegs von Spanien zurück in die Schweiz hatte ich Zeit, rückblickend Buchhalter in eigener Sache zu spielen. Ich fragte mich: Was nehme ich mit, von einem Land in das andere? Gibt es einen Bewusstseinszuwachs? Was hat mich belebt, beglückt und vielleicht sogar bereichert?

Aufgebrochen war ich im sogenannten «leeren Spanien», wo die Dörfer aussterben und wo Raum und Boden so grenzenlos vorhanden sind, dass neben den immer breiteren und besseren Strassen die alten einfach unbenützt zurückbleiben können.

So fuhr ich auch jetzt auf einer modernen Strasse der dritten oder vierten Generation hinunter an die Küste von Vinaròs, und weil es kaum erwähnenswerten Verkehr gab, konnte ich sie sehen, die zurückgelassenen Teilstücke der jetzt begradigten Kurven, auch die vielen langsam zerfallenden Brücken, die in der Landschaft rumstehen wie Kunstwerke.

Hinter mir lagen Monate der Dürre, auf die dann die katastrophalen Unwetter folgten. Einmal mehr hatte sich bestätigt, dass das iberische Klima immer wieder neu von extremen Auswüchsen geprägt wird. Entsprechend ist der Klimawandel eines der Themen, mit welchen sich die Politik beschäftigen müsste, dies aber nur sehr beschränkt tut, denn die spanische Politik beschäftigt sich vor allem mit sich selbst. Sie tut dies bis zu einem Grad, dass beim Lesen der Zeitung sogar einen unbeteiligten Aussenseiter wie mich leicht Fremdscham befallen kann.

Die in aller Öffentlichkeit ausgebreiteten Geschichten, mit welchen sich Politiker und Politikerinnen jeder Couleur bis aufs Blut bekämpfen, sind oft von peinlich geringer Relevanz, drehen sich natürlich vor allem um erfundene oder tatsächliche Korruptionsfälle und reichen oft auf geschmacklose Art bis in die Schlafzimmer hinein. Auch bei der Bewältigung der fürchterlichen Überschwemmungen von Valencia beweisen die Parteien einmal mehr, was sie wirklich umtreibt. Entweder wollen sie mit allen Mitteln an die Macht kommen oder sie wollen diese nicht verlieren. Beide Haltungen ersetzen aber kein Parteiprogramm.

Der Regierung muss man vor allem vorwerfen, dass sie dieses Spiel mitmacht und dass sie bereit ist, für den Machterhalt die unmöglichsten Konzessionen zu gewähren. Um die Situation mit einem Bild aus der Schweiz zu veranschaulichen: Würde der Freisinn versuchen, aus wahltaktischen Gründen mit den Jungsozialisten zusammen­zuspannen, käme das nicht gut. Absurd ja, aber die linke PSOE und die bürgerlichen Separatisten aus Katalonien, auf deren Stimmen Präsident Sanchez angewiesen ist, sind sich nicht näher.

Ich glaube, ich hatte noch nicht einmal die Autobahn erreicht, als mir auf meiner Reise zurück in die Schweiz bewusst geworden war, dass mich während meines langen Sommers in Spanien nicht die Politik, schon gar nicht die Tagespolitik, sondern meine Lektüre auf eine Art beschäftigt hatte, die mir als berichtenswert erscheint, umso mehr, als ich hier aus naheliegenden Gründen sehr gerne ein wenig für das Reisen im Kopf missionieren würde.

*

Wenn ich hier also über das Lesen schreibe, tue ich es im Bewusstsein, dass ich damit von Abenteuern erzählen kann, die ich ebenso intensiv wie klimaneutral durchlebte und die mich entschieden erfreuten und nachhaltig bereichern.

Längst ist es leider so, dass immer wieder irgendwelche Bekannte von weitschweifigen und teuren Reisen ohne viel Nennenswertes im Gepäck zurückkehren. Da ist vielleicht die Geschichte von der langen Wartezeit am Flughafen von Laos oder die Geschichte vom Schliessfach in Peking oder in Tokio oder die fürchterliche Geschichte vom Verlust einer Kreditkarte in Kuala Lumpur oder Anchorage oder die noch viel fürchterlichere Geschichte von dem in Rio verpassten Flug nach Lima. Ja, Amerika gibt es nicht. Natürlich wird man hier an die legendäre Kindergeschichte von Peter Bichsel erinnert. Bloss wird nach einer Reise nicht einfach erzählt, was man schon vorher wusste, meistens erzählt man jetzt gar nichts mehr. Die wirklich unangenehmen Nebeneffekte des Fliegens, wie das Reisen inzwischen längst heissen sollte, werden sowieso verdrängt und verschwiegen.

Was mich betrifft, kann ich aber bestätigen, dass ich bei meinen Kopfreisen des letzten Sommers nirgends Schlange stehen, keine Körpervisitationen über mich ergehen lassen musste und in keiner unzumutbaren, druck­kontrol­lierten Röhre mit anderen zusammengepfercht wurde wie die Sardinen in ihrer Büchse oder wie die gemästeten Schweine in den riesigen Viehtransportern, von welchen mir auf dem Weg zurück von Spanien in die Schweiz mehr als einer begegnet ist.

Der vierbändige Roman «Fortunata y Jacinta» von Benito Pérez Galdós führte mich beispielsweise mit minimalem materiellen Verschleiss in einem mehrwöchigen Höhenflug zurück in die Jahre 1870 bis 1872 nach Madrid, wo ich schwelgte in einer üppig ausgebreiteten, aufstrebenden Stadt, wo ich teilhaben konnte an den hitzigsten Diskussionen und mit den vielfältigsten Menschen in ihren jeweils luxuriösen oder aber desolaten privaten Lebensbereichen in Kontakt kam, wie ich das bei meinen wirklichen Besuchen in der spanischen Metropole nicht einmal annähernd je erlebt habe.

Gut, dabei handelt es sich um einen Roman, der in Spanien gleich nach dem «Don Quichote» erwähnt wird, und wohl nicht zu Unrecht wird sein Autor mit Balzac verglichen. Ähnlich intensiv war ich vor ein paar Jahren auch mit Tolstoj in Sachen Krieg und Frieden unterwegs gewesen. Oder noch im letzten Frühjahr schon zum zweiten Mal mit Rodion Romanowitsch Raskolnikow.

Das war vielleicht ein Trip gewesen. Eine Höllenfahrt, aber als ich durchgeschüttelt aus dieser von Dostojewski gebauten Achterbahn stieg, wusste ich wieder ganz genau, wozu Literatur fähig ist, und auch, dass es Völker gibt, die, salopp gesagt, einfach anders ticken als man es in Mitteleuropa gewohnt ist. Um an Russland ranzukommen oder halbwegs zu verstehen, wie anders die Menschen dort sind, muss man mit ihnen intensiv zu tun haben. Aber wo ist das möglich, wenn nicht in einem grossen Roman wie «Schuld und Sühne»?

*

Man mag es glauben oder nicht, aber als ich auf meinem Heimweg in die Schweiz an die Tage zurückdachte, die ich im Sommer dank Juan Rulfo lesend auf den Spuren von «Pedro Páramo» in Mexiko verbracht hatte, kriegte ich Gänsehaut. Aber noch verrückter: Ein Höhepunkt meines Sommers waren die Tage mit Kafkas «Prozess» in Prag gewesen und als ich, um daraus unterwegs im Auto nochmals meine Lieblingspassagen zu hören, das Hörbuch anklickte, hatte ich schon bald Tränen in den Augen.

Ja, dachte ich dann, sie sollen nur kommen mit ihren Kreuzfahrtschiffen und ihren Reisen nach Australien und Süd-Afrika und Kenia und Dubai und Thailand und wohin auch immer. Ich für mich, ich gehe sobald ich kann nach New York, jedoch nicht mit der Swiss, auch nicht mit der Lufthansa. Ich fliege mit «The collected Stories of Deborah Eisenberg».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Beat Sterchi ist freier Autor. Vor «Capricho» (Diogenes 2021) veröffentlichte er die Reisereportage «Going to Pristina» (essais agités 2018) und den Lyrikband «Aber gibt es keins» (Der gesunde Menschenversand, 2018). 
www.beatsterchi.ch

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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3 Meinungen

  • billo
    am 29.12.2024 um 20:51 Uhr
    Permalink

    «… dass beim Lesen der Zeitung sogar einen unbeteiligten Aussenseiter wie mich leicht Fremdscham befallen kann.» Ein sehr treffender Satz auch für meine Befindlichkeit in Italien!

  • am 30.12.2024 um 09:23 Uhr
    Permalink

    Schön, ihren Bericht zu lesen, Beat Sterchi, und dabei zu merken, dass man nicht allein auf weiter Flur ebenso unterwegs ist.
    Könnte ihre Leseliste um folgende Bücher ergänzen:
    George Orwell «Mein Katalonien»,
    Ilma Rakusa «Langsamer»,
    Patrick Holzapfel «Hermelin auf Bänken»,
    Klaus Mann «Mephisto»,
    Japanische Jahreszeiten – Tanka und Haiku aus dreizehn Jahrhunderten,
    Peter von Matt und Dirk Vaihinger «Die schönsten Gedichte der Schweiz»
    – dies sind nur ein paar Trouvaillen aus dem riesigen Angebot an toller Literatur…

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