Kommentar

kontertext: Unter der Brücke schlafen sie nicht, aber…

Nika Parkhomovskaia, Inna Rozova © zvg

Nika Parkhomovskaia / Inna Rozova /  Die russische Kultur wird im Westen nicht gecancelt, wohl aber werden einzelne russische Künstler:innen behindert.

Als im Krieg Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 der Grossangriff erfolgte, verliessen viele Kulturschaffende das Land, weil sie mit den Behörden nicht einverstanden waren und/oder aus Angst vor Repressionen. Gleichzeitig mit dem Massenexodus seiner Bürger begann die russische Propaganda, zwei eng miteinander verbundene Ideen zu verbreiten. Die erste lautete, dass im Ausland niemand Russen brauche und dass sie dort ein schreckliches Leben erwarte: In Georgien würden sie Mandarinen sammeln müssen, um sich zu ernähren, und in Europa hätten sie unter Brücken zu schlafen. Die zweite Propaganda-Idee besagte, dass Europa nicht nur die Russen nicht brauche, sondern auch die russische Kultur nicht wolle. Die würde dort nun verboten, abgeschafft und allgemein aller Todsünden bezichtigt. Nun denn, die Realität hat die Propagandarhetorik weitgehend widerlegt: In den zwei Jahren seit Beginn der Grossoffensive haben sich Tausende russischsprachiger Künstler irgendwie in Europa eingelebt und gelernt, dort zu leben, und einige von ihnen haben sich erfolgreich in den europäischen Kulturbetrieb integriert.

Die Erfolgreichen

Wenn wir von Erfolg sprechen, meinen wir in erster Linie jene Kulturschaffenden, die schon zuvor recht enge Beziehungen zum Westen hatten. Der Fall des Regisseurs und Theaterleiters Kirill Serebrennikov ist dafür typisch. In seinem Heimatland wurde er noch vor Beginn des Hauptangriffs im Februar 2022 – weitgehend gegen seinen Willen – zum «Kämpfer gegen das Regime» erklärt. Er war kein politischer Aktivist und machte keine scharfen regierungsfeindlichen Äuerungen, aber sein Theater war doch für Europäer, insbesondere für das deutschsprachige Publikum, verständlich und der offiziellen russischen Kultur zutiefst fremd. Infolgedessen wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet und er wurde unter Hausarrest gestellt, was ihn jedoch nicht daran hinderte, in Österreich, Deutschland, der Schweiz und anderswo Aufführungen zu inszenieren, die er online betreute. Es ist nicht verwunderlich, dass Serebrennikov, nachdem er schliesslich doch im Frühjahr 2022 nach Europa übergesiedelt war, das fortsetzen konnte, was er in letzter Zeit eben getan hat – nämlich Opern- und Theateraufführungen zu inszenieren. Zu seinen jüngsten Premieren gehören «Lohengrin» in Paris, «Le nozze di Figaro» in Berlin, «Barocco» in Hamburg, «Die Nase» in München und demnächst «Leben mit einem Idioten» in Zürich. Ausserdem hat er einigen seiner Schauspieler geholfen, nach Deutschland umzuziehen, und er hat eine eigene Theatergruppe namens «Kirill and friends» gegründet. Er hört auch nicht auf, Filme zu machen – die Premiere seines neuesten Films «Limonov, the Ballad of Eddie» wird diesen Mai bei den Filmfestspielen in Cannes stattfinden.

Der Jüngere

Timofej Kuljabin, ein Vertreter der nächsten Generation russischer Theaterregisseure, hat ein ähnliches Schicksal erlebt. Unmittelbar nach dem Februar 2022 gab er in der Presse und in den sozialen Medien eine Reihe harscher Äusserungen ab, woraufhin er gezwungen wurde, das von ihm geleitete Theater in Nowosibirsk zu verlassen. Wenig später wurden auch seine Eltern ohne Erklärung aus ihren Berufen entlassen. In Europa gelang es Kuljabin, in verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Genres zu arbeiten. Er inszenierte Tschechows «Platonow» in Berlin, Shakespeares «Macbeth» in Frankfurt am Main, Tschaikowskys «Pique Dame» in Lyon sowie «In der Einsamkeit der Baumwollfelder» von Bernard-Marie Koltès mit John Malkovich und Ingeborga Dapkunaite, das derzeit mit grossem Erfolg durch die ganze Welt tourt. Erwähnenswert ist, dass beide Regisseure nicht nur mit Weltklassikern arbeiten, sondern auch mit «russischem Material», so dass sich die Propagandathese, die russische Kultur werde im Westen gecancelt, als Übertreibung herausstellte.

«Weil es hier hell ist»

Allerdings sind nicht alle russischsprachigen Künstler und Kulturschaffenden im Exil so erfolgreich. Und das liegt nicht nur daran, dass viele von der Auswanderung überrascht wurden, sich schlecht vorbereitet hatten, über zu wenig Fremdsprachenkenntnisse verfügten und es ihnen auch einfach an Erfahrungen mit dem Leben und Arbeiten im Ausland mangelte. Es gibt zwei Punkte, mit denen fast jeder Kulturschaffende oder Künstler, der sich in dieser Zeit in Europa befindet, konfrontiert wurde. Der erste ist das, was man in der Psychologie Übertragung nennt. In Russland erzählt man sich gerne die Anekdote von dem Mann, der irgendwo in einem dunklen Park seine Schlüssel verloren hat und nun am Parkrand unter einer Laterne nach ihnen sucht. Auf die Frage eines Passanten, warum er seine Schlüssel hier suche und nicht dort, wo er sie verloren habe, antwortet er: «Weil es hier hell ist».

Ersatzhandlungen

Da die europäischen Kultureinrichtungen keine wirkliche Möglichkeit haben, den von der russischen Regierung begonnenen Krieg zu beenden, beginnen sie manchmal, diejenigen zu bestrafen, die für sie erreichbar sind: die Künstler, die vor diesem Krieg geflohen sind. Ihnen wird oftmals finanzielle Unterstützung verweigert, sie werden aus Förderprogrammen ausgeschlossen und nicht in wichtige Positionen gebracht. Manchmal geschieht dies ganz offen, manchmal, wie in Russland, ohne Angabe von Gründen. Damit soll nicht gesagt werden, dass dies immer geschieht, aber der Trend ist zu auffällig, um ihm keine Beachtung zu schenken.

Instrumentalisierung der Kunst

Ein weiteres beunruhigendes Moment ist der Versuch, Kunst in Propaganda zu verwandeln. Das ist der Grund, warum Künstler und Kulturschaffende aus Russland geflohen sind: Sie wollten nicht an einem ideologischen Krieg teilnehmen und in ihrer kreativen Arbeit zensiert werden. Jetzt befinden sie sich jedoch in einer ähnlichen Situation, nur mit umgekehrten Vorzeichen – von ihnen wird erwartet und manchmal ultimativ verlangt, dass sie eine Antikriegsposition zum Ausdruck bringen und sich von Russland distanzieren. Dabei sind sie doch aus ihrem Land geflohen, haben ihr Zuhause, ihre künstlerischen Karrieren, ihre Familien zurückgelassen und haben schon dadurch ihre Position unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Vielleicht spielt hier auch der Unterschied im soziokulturellen Kontext eine Rolle: Menschen, die in der Reisefreiheit Europas aufgewachsen sind, Menschen, für die es keine Grenzen zwischen den Ländern gibt und für die Umzüge eine Selbstverständlichkeit sind, können sich vielleicht nicht einmal vorstellen, wie dramatisch das Exil für diejenigen sein kann, die nie vorhatten, aus ihrem Land auszuwandern.

Die Auslöschung

Nein, die russische Kultur wird nicht gecancelt. Es wäre falsch von ihrer Auslöschung oder Ausmerzung zu sprechen. Wohl aber gibt es eine Tendenz zur Verdrängung oder Auslöschung einer ganzen Gruppe russischsprachiger Künstler. Einige von ihnen kehren enttäuscht und ohne Lebensunterhalt nach Russland zurück, wo sie sich einer realen Gefahr aussetzen, oder sie gehen in billigere und teilweise russischsprachige Länder wie Armenien und Kasachstan. Manche wechseln ihren Beruf und verlassen die Kunst, bis bessere Zeiten kommen. Russland hat eine grosse Zahl hervorragender Fachleute verloren, und für viele von ihnen gibt es auch in Europa keinen Platz. Die Frage ist, ob es Möglichkeiten und den Wunsch gibt, diese menschliche «kulturelle Ressource» klug einzusetzen,  oder ob der Wunsch, einen Sündenbock zu finden, obsiegt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.




























 

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2 Meinungen

  • am 2.06.2024 um 17:17 Uhr
    Permalink

    Zu «Leben mit einem Idioten» des r. Regisseurs: Ein Film-Joint-Venture (in Italien gedreht, internationale Produktion) auf Bluenews beschrieben. Es handelt von zwei «Irren», also psychisch beeinträchtigten Personen, die ein Restaurant betreiben. Natürlich fliegen Teller und Pasta und das obligate «Irren»-Geschrei. Der Journi, ein Normalo, fand das amüsant und kulturell gelungen. Fragte sich dann doch, sei das nicht diskriminierend? Er kam zum Schluss, nein, denn «ein bisschen chützele» sei erlaubt. Behindertenfeindlichkeit ist im Kulturbetrieb weit verbreitet. In diesem Stück im Opernhaus, dem Haus der Vernunft der Oberschicht, kackt der «Irre» ja auf den Boden. Vielleicht ist es umgekehrt: Das Irrationale sind die oberen Normalaos (die andere «chützeled»), das Rationale die Anderen. Behindertenfeindlichkeit, Rassismus, Homophobie, etc, Chomsky hat recht. Hohe Ansprüche der Autorinnen: Es gibt ein riesiges Kulturdienstleistungsprekariat hier. «Westliche Weltkunst», nicht «Weltkunst».

  • am 3.06.2024 um 00:33 Uhr
    Permalink

    Ich erlebe die Realität ganz anders als Nika Parkhomovskaia und Inna Rozova.

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