Kommentar

kontertext: Über Kulturleistungen unseres Radios und Fernsehens

Mathias Knauer* ©

Mathias Knauer /  Der Service-Public-Rundfunk braucht einen zeitgemässen Auftrag, der umfassende Kulturleistungen klar in den Vordergrund rückt.

Seit hundert Jahren haben die elektronischen Medien – wie die Gutenbergsche Revolution zu Beginn der Neuzeit – das Kulturleben in eindrücklichem Masse bereichert. Sie demokratisierten den Zugang zu den Künsten; sie erweiterten die Kunst- und Ausdrucksformen; sie schufen einen neuen Reflexionsraum des Kulturlebens und neue kulturelle Bildungsmöglichkeiten. Rasch zu Beginn des aufkommenden Rundfunks wurde schon klar, dass das ganze Potential des Mediums nur als Gemeinschaftsunternehmen, als Service public entfaltet werden kann. Die ursprünglich knappen Sendefrequenzen verlangten nach Wellenplänen und staatlichem Handeln und bald das Zusammenführen der wuchernden lokalen Initiativen; die entstandenen nationalen Quasi-Monopole entsprachen indessen auch einer immanenten Logik, denn zumal in der Schweiz galt es, allen Sprachregionen gleichermassen die Vielfalt des Kulturschaffens zugänglich zu machen und ihr Kulturleben mit kreativen Programmleistungen zu bereichern, was in würdiger Qualität anders als mit gemeinschaftlichen Lösungen nicht möglich ist.

Angesichts der europaweiten populistischen Angriffe auf diese wohletablierten Errungenschaften unseres Kulturlebens gilt es heute den Service public von Radio und Fernsehen neu zu sichern und abzugrenzen. Dabei gilt es zu verhindern, dass die Potentiale der Service-public-Medien im Bereich der Bildung, der Künste oder der Wissenschaft zu Gunsten blosser «Berichterstattung», Information und politischer Debatten geschwächt werden und somit unser Rundfunk noch mehr zum Kulturabbau gedrängt wird – nach dem schon seit drei Jahrzehnten von pflichtvergessenen Leuten betriebenen Abbau der SRG-Kulturleistungen und nach der Ausdünnung der künstlerischen und wissenschaftlichen Fachpersönlichkeiten mit Gestaltungs- und Entscheidungsmacht, ohne die es keine nachhaltige und – auch international – vernetzende Programmgestaltung geben kann.

Wenn der Bundesrat mit seiner abstrusen letzten Konzessionsänderung der SRG vorschreibt, die Hälfte ihrer Ausgaben der Information zu widmen, ist das eine krasse behördliche Beschneidung der mächtigen Kulturtechnik Radio und Fernsehen auf Dienstreichungen fürs politische Leben, heute edel benannt als «demokratierelevante Information». Diese ist unbestritten lebenswichtig, darf aber keinesfalls forciert werden auf Kosten des Kulturauftrags ans grösste Kulturinstitut der Schweiz, wie wir es jetzt beobachten müssen. Dass in den meisten Debattenpapieren der letzten Jahre sich weder eine Diskussion der Kulturleistungen der SRG noch Vorschläge zur Entwicklung finden, ja das Kulturleben meist nicht einmal gestreift wird, disqualifiziert nicht nur die Debatte – diese Blindheit ist kulturpolitisch fatal.

Kulturleistungen des Rundfunks

Im Unterschied zur verbreiteten Auffassung im Hause SRG, Service public werde im Konzessionsbereich Wissenschaft, Bildung und Künste schon geleistet, wenn eine gewisse Sendezeit gefüllt wird oder eine gewisse Masse Hörerinnen oder Zuschauer versorgt worden ist, muss sich ein wahres Kulturprogramm des Service public daran orientieren, wie es mit den beschränkten Mitteln optimal dem Kulturleben dienen kann: eigenschöpferisch, ergänzend, anregend oder fördernd. Was und wie können wir «zur Bildung und kulturellen Entfaltung» beitragen, wie es Verfassung, Gesetz und Konzession wollen – das müsste die tägliche Losung sein.

Selbst die intelligenteste Messmethode taugt nicht, Qualität und Wirkung dieser Programmleistungen zuverlässig zu prüfen: es braucht dazu das kulturpolitische Urteil, basierend auf Wissen und Erfahrung in der Sparte, und zugleich, im Vorfeld wie im Nachhinein, den Diskurs unter den Akteuren. Und es braucht für die einzelnen Achsen des Kulturwirkens eigentümliche Fragestellungen und unterschiedliche Formen eines Dialogs auf Augenhöhe. Beginnen könnte man mit Fragen von der Art: Was hatten Schriftsteller wie unsere Dürrenmatt, Frisch oder Hohl, Komponisten wie Schoeck, Wildberger oder Klaus Huber, für ihre Entwicklung und Entfaltung ihren Mentoren beim Radio zu verdanken – und womit können wir unseren Zeitgenossen mit unserem Service public heute noch besser dienen? Oder: Wie können wir die kreative Rolle des Radios für das Musikleben wiederbeleben, wie sie von Carlo Piccardi beschrieben worden ist?

Zugang zum Kulturleben

Von den drei kulturellen Wirkungsvektoren Zugang schaffen, Erweiterung der Ausdrucksformen und Herstellung und Pflege eines Reflexionsraums ist der historisch älteste am einfachsten zu fassen: das Ermöglichen und Erleichtern des Zugangs: Was unternehmen wir heute, hätte sich der Service public zu fragen, um bis ins letzte Tal und jedermann die Schweizer Literatur, den Schweizer Film, die Volksmusik wie die Musik der Welt und unserer Komponisten, philosophische und religiöse Diskurse, Architekturdebatten oder das Wissenschaftsgeschehen zu besten Sendezeiten sichtbar und zugänglich zu machen – also, um mit dem Kulturpolitiker-Topos en vogue zu reden, «Teilhabe» zu schaffen, kreativen Nachvollzug, Auseinandersetzung zu stiften (und nicht mit blosser «Berichterstattung» das Namedropping oder Partygeschwätz zu füttern)?

Und befriedigen wir ausreichend die Interessen der engagierten Minderheiten (denn Mehrheiten haben ja kein Recht, reicher als andere bedient zu werden, sie können den Angeboten ja gemeinsam zuhören und zusehen)?

Erweiterung der Ausdrucksformen

Tun wir unser Möglichstes, wäre dann zu fragen, unsere medienspezifischen Formen – Hörspiel, Radio-Essay, Feature oder Dokumentarfilm markanter Autorinnen und Autoren, experimentelle Radio- und Fernsehformen, Konzert und Konzertübertragung – zu entwickeln und mit unserem Radio- und Fernsehschaffen das Kulturleben zu bereichern und Lücken im Angebot zu schliessen? Ermöglichen wir unseren Autorinnen und Autoren die Entfaltung in unseren Medien; binden wir sie genügend ein bei der Weiterentwicklung der Programmformen und Gattungen, um diese zu kräftigen (und nicht zu verflachen)?

Medialer Reflexionsraum

Wie der politische Diskurs braucht auch das Kulturleben Information, Wissen und Austausch – sowohl für den Betrieb wie den Genuss und die Reflexion. Alle Medien haben traditionell Resonanzräume fürs politische wie fürs kulturelle Leben herausgebildet. Die Zeitung, seit sie universalistisch war, also sich für alle Bereiche interessierte, spiegelte früh schon das literarische, das Musikleben und die Kunstszene in Galerien und Ateliers. Nur indem sie der Leserschaft Erweiterungen der eigenen Erfahrung bot, gerade auch unerwartet in sehr speziellen Lebensbereichen, konnte sie auch als Werbeträgerin für Bekanntmachungen taugen und ökonomisch funktionieren. In höherer Entwicklungsstufe gab es übers «Feuilleton» hinaus regelmässige Sonderseiten für einzelne Sparten – die NZZ kannte periodische, teils wöchentliche Seiten für Film, Architektur, Radio und Fernsehen, Alpinismus, Schach oder Technik und Wissenschaft–; sie bildeten einen grossen Resonanzraum für das Kulturleben, das ja nicht nur aus dem Herstellen und dem Konsum von Kunstwerken besteht.

Wenn heute die Zeitungen rundum diese wichtige Funktionen fürs Kulturleben abgebaut bis ganz gestrichen haben, hätte der Rundfunk vermehrt einzuspringen und diese Rolle des Resonanzraums mitzutragen. Denn die Verfassungsnorm zielt umfassend darauf, dass Radio und Fernsehen mit den ihnen spezifisch zur Verfügung stehenden Mitteln Leistungen erbringen sollen, dank deren sich nicht nur die Kreation und die Kunstgeniessenden, sondern das gesamte Kulturleben als kommunikativer Zusammenhang besser entfalten können.

Was heisst «zur kulturellen Entfaltung beitragen»?

«Kulturberichterstattung» den Events entlang genügt nicht zur Pflege des medial vermittelten Reflexionsraumes für die Kultur und die Künste. Produktives Aneignen, in ästhetischen Dingen nicht selten ja übers kreative Missverständnis, bedarf der Herausforderung durch wertsetzende Diskurse – das meinte schon Benjamin, wenn er das Paradox in der dreizehnten Kritikerthese benennt: «Das Publikum muss stets Unrecht erhalten und sich doch immer durch den Kritiker vertreten fühlen».

Ein Qualitätsdiskurs muss den Hörer und die Zuschauerin ernst und in Anspruch nehmen. Um diesen zu führen und zu entwickeln muss ein nationaler Rundfunk die besten Köpfe – der Kreation wie der Kritik – versammeln, und sollte ihnen Zeit und Mittel geben, gestaltend zu arbeiten und nicht nur als «Content» Bruchstücke anderer Arbeiten weiterreichen zu müssen. Darauf müssen wir als Publikum und wir als Kulturschaffende heute erneut und gemeinsam pochen.

Als bei der SRG Mitte der 1990er Jahre der Abbau der Kulturleistungen immer krasser wurde und verschiedene Aktionen im Parlament, von Publikumsinitiativen und der Kulturschaffenden, die sich zunehmend entrechtet fühlten, folgenlos geblieben waren (die geplante Einrichtung eines zivilgesellschaftlichen Kulturbeirats im Radio- und Fernsehgesetz hatte die SRG weglobbyiert), versuchte der Dachverband der Urheberinnen und Urheber Suisseculture wenigstens mit «Werkstattgesprächen» in einen Dialog mit der SRG zu treten. Sie wurden, weil ohne produktive Wirkungen, nach dem Treffen 1997 in Gerzensee nicht mehr fortgeführt, obwohl ein Bericht des Bundesrats («Kultur in den Medien der SRG», S. 18) diesen Dialog ausdrücklich empfohlen hatte.

Wir hatten damals als Hauptreferentin Marie Luise Kiefer zum Thema «Kultur in Radio und Fernsehen» eingeladen, die langjährige Leiterin der Fachzeitschrift «Media Perspektiven» und damals Medienforscherin an der Universität Wien. Sie setzte sich mit der Frage der werbegetriebenen, bloss quantitativen Publikumsforschung auseinander, die stets wieder den Kulturabbau legitimieren hilft. Zum Werkstattgespräch kam es allerdings nicht: die einschlägigen Referenten der SRG waren bereits wieder abgereist. Geblieben ist indessen Kiefers Text von fast legislatorischem Zuschnitt, der nach wie vor gilt, und der damit schliesst:

«Öffentliche Rundfunkunternehmen müssen ihre Raison d’être […] neu definieren. Sie können verstanden werden als institutionelles Arrangement zur Auflösung eines spezifischen sozialen Dilemmas, das bei marktförmiger Bereitstellung von Medien in der strukturellen Vernachlässigung von Minderheiten ohne Kaufkraft und von kulturellen Codes, die in der Bevölkerung wenig verbreitet sind, liegt. Sie sind ein institutionelles Arrangement zur Überwindung des Dilemmas kommerzieller Medienorganisation und zur Sicherung der kommunikativen Teilhabechancen aller gesellschaftlichen Gruppen und aller in der Gesellschaft verbreiteten Meinungen und Interessen. Ein solches Verständnis schliesst die Rückdelegation von Programmverantwortung an das Publikum, wie sie der Fetischisierung von Einschaltquoten ja zugrundeliegt, aus. Das sind Vorstellungen des Marktmodells – öffentlicher Rundfunk ist zur Erreichung seines Sachziels den Marktkräften aber gerade weitgehend entzogen.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Mathias Knauer ist Musikwissenschaftler, Filmemacher und Publizist. Er ist seit Jahren in der Kulturpolitik engagiert. Er war Mitbegründer der Filmcooperative und des Filmkollektivs Zürich. Als Mitglied des Verbands Filmregie und Drehbuch Schweiz war er an der Ausarbeitung des «Pacte de l’audiovisuel» und anderer filmpolitischer Instrumente beteiligt. Er ist Vizepräsident von Suisseculture und Mitbegründer der Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt, in deren Vorständen er u. a. das Dossier Medienpolitik betreut.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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4 Meinungen

  • am 4.12.2022 um 12:30 Uhr
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    Ein Prafoartikel. Die Krux sind die unsäglichen Einschaltquoten als Erfolgsmesser einer Sendung. Dabei sind sie oft umgekehrt proportional zur Qualität. Man merkt’s. Die SRG hat Angst vor den Rundfunkabschaffern der politischen Mitte und rechts davon, weil Qualität in der Kultur oft Kritik bedeutet. Oft eben gegen die. Deshalb das Ausdünnen der Berichterstattung des redundanten Denkens in Literatur und auf der Bühne im Lautsprecher oder auf dem Bildschirm vor dem Sofa. Lieber Fussball halt.

  • am 4.12.2022 um 14:18 Uhr
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    Die SRG besteht zum Glück nicht nur aus SRF. Man beachte z. B. Radio RTS «La Première»: Obschon nicht an Minderheiten gerichtet, hört man hier in weiten Teilen feinstes, anspruchsvolles Kulturradio. Völlig anders als bei SRF1.

  • am 5.12.2022 um 11:55 Uhr
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    Leider weiss niemand, wie man das alles finanzieren soll bzw. man ist nicht gewillt, Geld locker zu machen. So wie es heute läuft, ist es ungerecht (eine Steuer, die wie eine ‹Kopfprämie› wirkt) und einfach scheusslich (zu jeder Tages- und Nachtzeit, an Sonn- und Feiertagen: immer kommt Werbung).
    Es ist zum davon zappen! Man schaut möglichst andere Sender. Die arme Schweiz kann sich kein anständiges Fernsehen leisten…. ?!

  • am 5.12.2022 um 15:12 Uhr
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    Sind die Mittel beschränkt, scheint mir ein Mittelweg zwischen Markt und völligem Foutieren um das Publikumsinteresse ein pragmatisches Vorgehen.

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