Kommentar
kontertext: Kleine Texte über kleine Dinge
Red. Seit 1906 sucht und baut die Zeitschrift des religiösen Sozialismus «Neue Wege» Brücken zwischen religiösen und linken gesellschaftspolitischen Diskursen. Die aktuelle Ausgabe ist dem Kleinen gewidmet. Auf Einladung von «kontertext» hat Andreas Mauz als Mitverantwortlicher in der NW-Redaktion einige Texte aus dem Heft ausgewählt.
Flohklein
Lange Zeit galt der Floh als das kleinste Tier überhaupt. Die Position eines Schiedsrichters bei der Beurteilung der Grösse hatte sich seit jeher der Mensch angemasst. Was er nicht sehen konnte, erschien ihm unerheblich, ja inexistent. Das sollte sich mit der Erfindung der neuen optischen Instrumente ändern. Der Glaube an eine automatische Verbindung des Nichtsichtbaren und des Nichtexistierenden verschwand jedoch nie restlos. Die Versuche, die Schwelle des Winzigen in Richtung des noch Kleineren zu überschreiten, konnten über das Unauffindbare bis zum Nichtexistierenden führen. Es stellte sich überdies heraus, dass nicht nur die Grösse, sondern auch die Geschwindigkeit ausschlaggebend war für die Sichtbarkeit eines Objekts. Der Floh kann blitzschnell das 750-fache seiner Beinlänge hoch und das 1500-fache weit springen. Der Floh entzieht sich dem Mikroskopisten; er kann nur einen Kadaver unter seinem Objektiv betrachten. Damit aber entgeht ihm eine Eigenheit des Flohs: das Zusammenspiel von Winzigkeit und Wendigkeit.
(Ulrich Stadler, *1939, war Professor für Germanistik an der Universität Zürich. Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem Buch Der ewige Verschwinder. Eine Kulturgeschichte des Flohs. Basel 2024.)
Momentum
Wir begleiten in der Frühförderung Familien, die ein Kind mit einer Erkrankung oder Behinderung haben. Oft sind es unscheinbare Schritte, die Kinder in ihrer Entwicklung gehen. Manchmal nur ein Blick, zwei, drei Sekunden des Wahrnehmens, ein Händedruck, ein Mini-Lernerfolg nach langer Zeit. Diese kleinen Momente zu sehen, zu benennen und zu feiern – das ist meine Aufgabe und meine Motivation.
Kiano (Name geändert) ist fünf und lebt mit der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung, einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, die sich beispielsweise an einem reduzierten Interesse an sozialen Kontakten zeigen kann. Kiano kann nicht sprechen, aber mit voller Stimme Töne singen. Ich versuche auf der Gitarre, seine Stimmlage, seinen Rhythmus wiederzugeben. Erst schaut er verwirrt, dann scheint er zu verstehen, dass er es ist, der den «Takt angibt». Seine Augen strahlen, sein Tun zeigt Wirksamkeit, er spürt sich und tritt in Kontakt mit mir. Auf seine Art und Weise, in seinem Tempo. Scheinbar klein, aber ein grosser Moment! Einzigartig. Dadurch noch viel grösser.
(Petra Schünemann, *1972, ist Sozialarbeiterin in einer Frühförderstelle.)
Ein «Neue-Wege»-Heft über das Kleine
Aber wieso überhaupt «Im Kleinen»? Andreas Mauz sagt: «Ich weiss nicht mehr, wer die Idee ins Spiel gebracht hatte. Aber wichtiger war ohnehin: Wir alle fanden sie gut. Nach zwei «Neue-Wege»-Heften zu anspruchsvollen Grossthemen – Wie geht Kritik? und Ein Sozialismus fürs 21. Jahrhundert? – war ein Kontrapunkt fällig. Etwas Leichteres musste her. Mit der Idee, dem Kleinen ein Heft zu widmen, kam sofort der Gedanke, das Thema auch anschaulich werden zu lassen. Wir baten unsere Autor:innen um kleine Texte über kleine Dinge, nicht mehr als tausend Zeichen unter einem Einworttitel.
Die über 50 Beiträge, die uns erreicht haben, betreiben aufmerksam Mikrologie und bringen Erstaunliches zu Tage. Sie sehen und loben das Potential des Kleinen, das wachsen kann oder gerade als Kleines bestimmten Zwecken dient; sie stellen es als zu Kleines und Einengendes aber auch in Frage. Sie finden the devil in the detail, loben gott gerneklein und die kleinschreibung. – Hier ein Mosaik von Kleinigkeiten, die nicht nur Lust auf dieses «Neue Wege»-Heft machen mögen.»
kleinschreibung
«Jede Liebe ist kürzer als ihre Geschichte», dieser vieldeutige ein-satz elazar benyoëtz’, ist mir mahnung und einladung, mich in der bescheidung auf kurze, prägnante texte zu üben. bei anderen autor_innen schätze ich sie ja längst, jene klein-schreib-formen des aphorismus, der redewendung, des gedicht- oder liedverses, der kalendergeschichte, der notiz, des witzes, des rätsels …, neige aber selbst eher zur epischen breite statt zur verdichteten knappheit. dabei weiss ich doch: je weniger ich schreibe, je kürzer ich mich fasse, desto mehr gebe ich meinen leser:innen raum, auf dass sie sich im nach-, weiter- und gegendenken und -reden meiner worte entfalten können. mit dem kleingeschriebenen (auch im grammatischen sinn) wächst die mehrdeutlichkeit. kleine texte sind einräumungen für um so grössere auslegungen. indem sie die routinen des alltags unterbrechen, intervenieren sie gegen selbstverständliches, geben der augenblicklichkeit gewicht und eröffnen spielräume zum denken und – l(i)eben.
(Madgalene L Frettlöh, *1959, ist Professorin für Systematische Theologie [Dogmatik] und Religionsphilosophie an der Universität Bern.)
NEIN
Nein, ich lobe das Kleine nicht, bestimmt nicht einfach so. In der Scheintugend des Kleinen verstecken sich allzu oft Biederkeit, Kleinlichkeit und Fantasielosigkeit. Gross Denken, gross Handeln – was spricht dagegen? Und wenn doch, ab welcher Grösse?
Nein, Kleinsein ist kein moralischer Wert an sich, denn «Grössenwahn passt» – so Thomas Lehr – «in die kleinste Hütte».
Nein, Miniaturen sind nicht nur reizvoll. Leicht kippen sie ins Kitschige. Und statt Modelle für Grosses zu sein, verkümmern sie zu Dekor.
Nein, das Kleine ist nicht einfach nur überschaubar. Die Erfahrung, dass man nicht immer alles im Blick hat, kann diesen auch weiten.
Nein, ich lasse mir nicht diktieren, was klein und gut, was gross und bös. Wer setzt das Mass? Mit welcher Absicht?
Nein, nein und nochmals nein, denn ich bin klein, mein Herz ist rein, doch lieber hätt’ ich grosses Schwein.
Ja, ich lobe das Kleine doch, aber nicht mit Trotz gegen Grosses, sondern mit der grossen Aufgabe, das Kleine nicht klein zu machen.
(Hans ten Doornkaat, *1952, ist Teilzeitrentner und schlägt sich bis heute mit Texten und Illustrationen herum.)
Paris
Was kommt Dir in den Sinn, wenn Du an «Kleines» denkst?
Ich bin gerade in Paris und ich fühle mich so klein in dieser grossen Stadt. Diese Stadt ist sooooo riesig! Ich bin auf den Eiffelturm hochgegangen. Und dann haben wir von oben gesehen, wie gross diese Stadt ist. Sie hört eigentlich fast nicht auf. Da bin ich mir wirklich ganz «munzigchli» vorgekommen. Und auch in der Metro, also in der Bahn unter der Erde, geht es mir so: das ist ein riesiges Labyrinth! Aber manchmal hat es auch etwas Gutes, so klein zu sein. Weil: Man kann sich gut verstecken hier!
Wenn du nicht in Paris bist: Fühlst du dich dann manchmal auch klein?
Nein. Ich würde sagen: Ich bin einfach jung. Ich finde eigentlich immer das Alter am besten, das ich gerade habe.
Und was sind so kleine Sachen, über die du dich freuen kannst?
Dass wir auf den Eiffelturm gegangen sind, aber das ist ja gross. Ah, ja: Heute morgen in Paris hat mir eine Frau in einem Restaurant einen Schleckstängel gegeben.
(Jonathan Schilliger, *2017, ist Primarschüler in der 2. Klasse. – Interviewt hat ihn seine Mutter Sarah Schilliger.)
Gering-Schätzung
Uns «wird nicht um ein Fädchen Unrecht zugefügt», heisst es im Koran. Das Fädchen ist ein Härchen, ein Häutchen, eine klitzekleine Faser auf der Oberfläche eines Dattelsteins. Auch heisst es: «Wer auch nur ein Staubkorn an Gutem getan hat, der wird es dann sehen. Und wer auch nur ein Staubkorn an Schlechtem getan hat, der wird es dann sehen» (Koran 99:7–8).
Fädchen und Staubkorn stehen für das geringste Mass, das fast unsichtbar, kaum messbar und von vernachlässigbarer Grösse ist, das bei Gott aber dereinst gewichtet wird.
Nichts, und sei eine Sache noch so klein, unscheinbar und belanglos, bleibt bei Gott ungesehen. Alles, auch die winzigste, nichtig scheinende, fürs menschliche Auge weder erfass- noch messbare Sache ist für Gottes Beurteilung bedeutsam. Gott entgeht nicht das Geringste unseres Tuns. Und Gott begeht nicht das geringste Unrecht in Seinem Tun. Jedes Stäubchen, das unser Auge im Sonnenlicht herumwirbeln sieht, jede noch so kleine Faser, die am Kern einer Dattel klebt, erinnert daran.
(Amira Hafner-Al Jabaji, *1971, ist Islamwissenschaftlerin und Publizistin.)
Wurmpädagogik
Wenn das Grosse klein und das Kleine gross erscheint, ist das komisch. Diese Umkehrung macht im Kern die Tragikomik der biblischen Jona-Geschichte aus. Der widerspenstige Prophet flieht, als er seinen Auftrag erfüllen sollte; er schweigt, wenn er reden sollte; er klagt, als er Erfolg hat. Dabei hat Gott Massnahmen parat, die den grössten Sturkopf zum Umdenken bewegen sollten: Er bietet einen Sturm auf – Jona schläft; er bietet ein Meeresungeheuer auf – Jona betet; er gibt ihm eine zweite Chance – Jona latscht lakonisch durch die Stadt und wiederholt drei Tage seine Finsterbotschaft «Zerstörung in 40 Tagen!». Als sich die Menschen überraschenderweise Gott zuwenden, muss Jona klagen. Die Vernichtung hat nicht stattgefunden! An diesem Punkt ist Gott zu einer komischen Wende fähig: Er lässt eine Staude wachsen und schickt einen kleinen Wurm, um ihr ein Ende zu bereiten. Der kleine Wurm vermag mehr als der Riesenfisch. Er bohrt sich durch Jonas Dickschädel: Wenn ihm die Staude leidtut, wie sollte Gott die Stadt nicht leidtun? Wurmpädagogik gibt keine Anweisungen, erhebt keine Anklagen, sondern stellt kleine, bohrende Fragen.
(Moisés Mayordomo, *1966, ist Professor für Neues Testament an der Universität Basel.)
So
Man pisst mit Panoramasicht, und weiss auch grad nicht, was man sich noch wünschen könnte. Hat einen Ausfall, einen glücklichen, im Gehirn. Man zieht die Hose hoch. Biegt in Stall. Teilt die weissen, drahtigen Schwanzhaare von Anemone, fädelt die Schnur durch, wickelt sie dem Haar entlang hoch, macht eine Schlaufe. Man lässt den Schwanz in die Schnur hüpfen, sagt: «So?» Es tönt wie eine Frage, die keine Antwort möchte. Man geht eine Kuh weiter.
(Noemi Somalvico, *1994, schreibt und lebt in Bern. Eben ist bei voland&quist ihr neuer Erzählband Das Herz wirft in der Brust keinen Schatten erschienen.)
Krone
In meiner Kindheit kam es sonntags vor, dass mein Vater in der Früh mit dem Kassettenspieler sizilianische Volksmusik aufdrehte: Es nervte mich, besonders als ich zum Teenager heranwuchs und einfach ausschlafen wollte. Dass ihm diese banalen Liedtexte, die sich um Liebe und Missgunst drehten, gefielen, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen.
Heute gehört ausgerechnet eines dieser Lieder zu meinen Lieblingssongs: A curuna – Die Krone. Eine Liebesgeschichte à la Romeo und Julia. Besonders gefällt mir die Interpretation von Etta Scollo mit ihrer kräftig-wilden Stimme. Es ist aber auch die Sprache: ein Sizilianisch genau so, wie es meine Eltern sprachen, mit all seinen verrückten Redewendungen, die ich gar nicht zu übersetzen wüsste.
Dieses Lied erinnert mich mehr an meine Kindheit als jedes Gespräch mit anderen Secondos und Secondas, die meistens eine andere Version des Dialekts sprechen. Mein Vater hörte diese Musik, um sein Heimweh zu stillen. Heute höre ich sie, um mich an mein Elternhaus zu erinnern.
(Giuseppina Burgunder, *1967, ist Coiffeuse.)
Hokuspokus
Die kleinste Puppe in meinem Leben ist das daumennagelgrosse Keramikchristkind, das Jahr für Jahr in der winzigen Krippe unter dem Weihnachtsbaum liegt. Es war für mich lange das Kleinste und Zarteste überhaupt. Gleichzeitig wusste ich, dass es der Grund der ganzen Aufregung dieser Weihnachtszeit war. Noch heute ist meine allererste Sorge beim jährlichen Auspacken des Christbaumschmucks, ob es noch da ist. Was, wenn es einmal fehlte? – Die menschliche Inkarnationsfigur, welche dem christlichen Gott mit soviel «Hokuspokus» eingeschrieben wurde, hat ihre Tücken. Die Winzigkeit des Figürchens steht bei jeder erneuten Betrachtung in verblüffendem Widerspruch zum Gewicht eines Erlösers der Menschheit. «God is a concept by which we measure our pain», singt John Lennon. Wie schön, gibt es das Göttliche als Miniatur! Man weiss, dass es verschwinden oder zerbrechen kann und erlebt durch seine Winzigkeit doch das ganze stille Pathos, welches mit der Natalität einhergeht. Fast schmerzfrei.
(Silvia Henke, * 1962, ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und freie Publizistin.)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Andreas Mauz ist Literaturwissenschaftler und evangelischer Theologe. Er lebt mit seiner Familie in Basel, lehrt an verschiedenen Universitäten, betätigt sich in der Erwachsenenbildung und in der Redaktion der Zeitschrift «Neue Wege». Derzeit arbeitet er am Aufbau einer Agentur für Critical Thinking.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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